Offenbar schätzen manche Menschen auch nicht mehr ihre schönen alten Bücher. So fand sich gestern im Bücherschrank auch eine Ausgabe von Felix Timmermans bekanntestem Roman ›Pallieter‹ aus dem Insel-Verlag.
Der Band ist zwar von 1943 (die deutsche Erstausgabe erschien 1921 im Insel-Verlag), und die Seiten sind entsprechend etwas nachgedunkelt. Aber er ist insgesamt gut erhalten und so schön gestaltet, wie es für die Bände des Insel-Verlags damals üblich war, mit hübschen kleinen, einfachen Zeichnungen des Autors und gesetzt anscheinend aus der entzückenden Unger-Fraktur.
Das Buch ist ein guter Beleg für die von Ferdinand Puhe treffende Charakterisierung Timmermans als einen
»[…] Künstler, der mit Worten malt und mit dem Malerpinsel und dem Zeichenstift erzählt.«
Puhe, Ferdinand: »Ich habe zunächst einmal eine Gier beim Malen …«. Felix Timmermans – Schriftsteller und Illustrator. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie Bd. 242, Heft 2021/3 (2021), S. 65
Schon merkwürdig – und in dem Fall auch bedauerlich –, was die Leute so alles nicht mehr lesen oder zuhause haben wollen. Gestern im Neuenheimer Bücherschrank gefunden: Ödön von Horváths ›Geschichten aus dem Wiener Wald‹ aus der Bibliothek Suhrkamp.
Ein schlichtes, solide gemachtes Buch, wie es sein sollte, an dem nichts ablenkt, mit einem fulminanten Inhalt: Wie entsteht brutales, rücksichtsloses, faschistisches Denken? Dummheit ist ein wesentlicher Faktor, weshalb auch der folgende, überaus bemerkenswerte Satz dem Stück als Motto vorangestellt ist:
»Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit.«
Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald
Zu Horváth, einem heute mehr denn je lesenswerten Schriftsteller, siehe oder, besser gesagt, höre etwa die WDR-Sendung ›ZeitZeichen‹ vom 15.4.2018: 01.06.1938 – Todestag Ödön von Horvath
Bücher werden in der Regel als fertiges, makelloses Produkt wahrgenommen, das keine Spuren seines Fertigungsprozesses aufweist oder aufweisen soll. Nur ein sichtbarer Fehler kann auf seine Genese und diese ›Vergangenheit‹ hinweisen. Im Falle der heutigen, im Desktop-Publishing und Offset-Verfahren erstellten Bücher finden die einzelnen Fertigungsschritte, der Satz, der Druck und die Bindung, auch für die Beteiligten jedoch meist im Verborgenen statt, im Rechner, in der abgeschirmten Druckmaschine oder auf der Fertigungsstraße der Buchbinderei. Anders sieht es hingegen bei Büchern aus, die im Bleisatz und Buchdruck gefertigt wurden. Hier gibt es keine Blackbox, die einzelnen Fertigungsschritte sind für Setzer und Drucker einsehbar, hörbar und fühlbar, sinnlich erfahrbar. Und im fertigen Buch sichtbare Fehler rufen diese Arbeitsschritte geradezu unvermittelt während der Lektüre, bei der man an den Text denkt und nicht an die Fertigung seines Trägers, in Erinnerung, führen dem Leser die ›individuelle Biographie‹ des Buches vor Augen und werfen es in seine ›Kindheit‹ zurück. Voraussetzung ist natürlich, dass der Leser den Fehler erkennt und die Spur lesen kann.
von Hahn, Johann Georg (Hrsg.): Griechische Märchen, Die andere Bibliothek. Bd. 27. Nördlingen: Greno Verlagsges. mbH, 1987
Solche Spuren der Vergangenheit eines Buches wirken umso intensiver, weil unerwartet, je makelloser es aufgrund des hohen Qualitätsanspruches des Verlages sein soll. Ein Beispiel ist hier der Band ›Griechische Märchen‹ aus der berühmten, ursprünglich von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Reihe ›Die Andere Bibliothek‹, der 1987 erschienen ist und von Franz Greno gestaltet sowie in seiner Werkstatt gesetzt und gedruckt wurde. Auf Seite 280 ist am Ende der Überschriftzeile ein schwarzer Fleck mit rechteckigem Umriss zu erkennen, bei dem es sich um den Abdruck eines Ausschlussstückes, vielleicht eines Viertelgevierts handelt, ein sogenannter Spieß.
Ausschluss- oder Blindmaterial soll den Raum einer Zeile füllen, der nicht mit Text gefüllt ist, und folglich nicht mitgedruckt werden (daher ›blind‹).
Während des Druckens ist ein Stück offenbar hochgerutscht, wurde eingefärbt und dann doch mitgedruckt. Das kann verschiedene Gründe haben, aber hier war entweder der Setzer verantwortlich, der die Zeile zu fest ausgeschlossen hat, wodurch sie unter zu viel Spannung stand, oder der Drucker hat die Form vor dem Einheben in die Maschine nicht richtig geschlossen. Jedenfalls scheint der Fehler dem üblicherweise sonst strengen Blick von Grenos Mitarbeitern entgangen zu sein. Im Auge des Druckers ist der Spieß natürlich ein Fehler, für den Leser aber letztlich ein außergewöhnlicher, wenn auch unfreiwilliger Hinweis auf den aufwendigen Fertigungsprozess der Bücher dieser Reihe, die noch bis 1996 im Bleisatz und Buchdruck hergestellt wurden, der es gleichsam auch materiell nahbar macht.
Literatur
Haefs, Wilhelm; Schmitz, Rainer: Die Chronik der Anderen Bibliothek. Bände No. 1–400. Berlin : Die Andere Bibliothek, 2018
Boehncke, Heiner; Sarkowicz, Hans: Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten. Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen, Kometen der Anderen Bibliothek. Berlin: AB – Die Andere Bibliothek, 2014
Wörgötter, Michael; Schnotale, Heike: Bleisatz. Ein Werkstattbuch. Bonn: Rheinwerk Verlag, 2022 (erscheint voraussichtlich im November)
Bauer, Friedrich: Anfangsgründe für Schriftsetzer.Kleine Fachkunde. 12., neu bearb. Aufl. Frankfurt a.M. : Polygraph, 1967
Davidshofer, Leo; Zerbe, Walter: Satztechnik und Gestaltung. Schweizerisches Fach- und Lehrbuch für Schriftsetzer. 3. Aufl. Zürich: Bildungsverband Schweizer. Buchdrucker, 1954
Bekanntlich finden sich in öffentlichen Bücherschränken allerlei mehr oder weniger bemerkenswerte Bücher. Aber dieser schmale Band mit einer fiktiven Geschichte des englischen Schriftstellers Alan Bennett über die Leseerfahrungen der Queen mit abschließender überraschender Wendung, über die man gerade in diesen und vergangenen Tagen des öfteren öffentlich diskutiert, war es allemal wert mitgenommen und gelesen zu werden, nicht zuletzt natürlich weil er in der vorzüglichen Reihe SALTO des Verlags Klaus Wagenbach erschienen ist (hier in der 18. Auflage!). Bei dessen Anblick stellte sich natürlich unvermittelt die Frage, warum jemand diesen Band überhaupt abgeben wollte.
Es ist eine entzückende Geschichte, durch die man zwar auch auf sehr amüsante und zugleich nachdenkliche Weise etwas mit der Queen in Kontakt zu kommen meint, aber die vor allem vom ›Zauber‹ des Lesens handelt. Bereits auf den ersten Seiten lässt Bennett die Queen folgende treffliche Erkenntnis über das Lesen aussprechen:
»Aber Informieren ist nicht gleich Lesen. Es ist im Grunde sogar das Gegenteil des Lesens. Information ist kurz, bündig und sachlich. Lesen ist ungeordnet, diskursiv und eine ständige Einladung. Information schließt ein Thema ab, Lesen öffnet es.«
Bennett, Alan: Die souveräne Leserin, Salto. Bd. 155. 18. Aufl. Berlin: Wagenbach, 2016. S. 22
Und heißt es nicht, wir lebten aktuell im ›Informationszeitalter‹? Bedauernswert und ein Grund mehr, schöne und gute Bücher zu lesen, was das Zeug hält.
Eine schöne Überraschung gab es vor einigen Tagen, als mir eine freundliche Nachbarin neben diversen Büchern auch drei Bände des Eugen Diederichs Verlag mit Illustrationen von F. H. Ernst Schneidler schenkte:
Kungfutse: Gespräche (Lun Yü), Die Religion und Philosophie Chinas. Bd. 1. Jena: Diederichs Verlag, 1910
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund (Tschung Hü Dschen Ging). Die Lehren der Philosophen Liä Yü Kou und Yang Dschu, Die Religion und Philosophie Chinas. Bd. 8,1. Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1911
Mengzi: Mong Dsi (Mong Ko), Die Religion und Philosophie Chinas. Bd. 4. 2. Aufl. Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1921
Beide – Diederichs und Schneidler – haben zwischen 1909 und 1924 zahlreiche Buchprojekte miteinander realisiert und gehörten zu den wichtigsten Protagonisten der Buchkunstbewegung in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie wurden auch in der Ausstellung der Heidelberger Universitätsbibliothek 2018/19 ausführlich vorgestellt.
Der Verleger Eugen Diederichs (1867–1930) gilt als Wegbereiter der neuen Buchkunst in Deutschland und wird in der 1912 erschienenen Heidelberger Dissertation von Helmut von Steinen als »der Prototyp des modernen deutschen Kulturverlegers« bezeichnet. Beeinflusst von den Ideen William Morris’ setzte er von Beginn an seine Vorstellungen von einer hochwertigen Ausstattung insbesondere des ›Gebrauchsbuchs‹ durch. Die Gestaltung des Einbands und des Textes, der Buchschmuck und die Papierwahl mussten aufeinander abgestimmt werden und dem Inhalt des Buches entsprechen. Besondere Aufmerksamkeit widmete Diederichs bei seinen Büchern dem Innentitel, während der Textteil meist keinerlei Schmuck aufweist, wie es auch bei den hier vorgestellten Bänden der Fall ist.
Das folgende Zitat aus einem Beitrag des Bibliothekars und Buchwissenschaftlers Jean respektive Hans Loubier zur ›neuen Buchkunst‹ von 1910 umreißt die Bedeutung Diederichs recht präzise:
»Wenn wir nach den Verlegern fragen, die zuerst auf eine zeitgemäße künstlerische Durchbildung ihrer Verlagswerke in Druck, Satz, Buchschmuck und Einband Gewicht legten, so müssen wir dankbar als ersten, als Bahnbrecher Eugen Diederichs nennen, der damals, 1896, seinen Verlag begründete. Diederichs ist bis heute unablässig bemüht gewesen, jedem Buche seines Verlags eine seinem Inhalt entsprechende, ich möchte sagen individuelle Ausstattung zu geben. Mit liebevoller Sorgfalt wählte er, fast für jedes Buch anders, das Druckpapier, die Type, die Satzanordnung, den Zierat, Vorsatz und Einband, in allen kleinsten Einzelheiten, z. B. im Titelsatz, in der Anordnung der Seitenzahlen und Kopftitel, der Druckvermerke, suchte er etwas Neues, Originelles zu geben. Er hat, lebhaften und beweglichen Geistes, viel experimentiert, aber sein feiner Geschmack, sein buchästhetisches Gefühl bewahrten ihn davor, im Neuen etwa absurd zu werden. Und seine mancherlei Experimente haben anderen Verlegern und auch Künstlern viele Anregungen gegeben. Er hat, was ihm nicht hoch genug angerechnet werden kann, und womit er mutig vorangegangen ist, von Anfang an junge Künstler herangezogen, wie Cissarz, Fidus, Vogeler, Lechter, Behrens, E. R. Weiß, Ehmcke und manche andere, und ihnen nicht nur den bildlichen und ornamentalen Schmuck, sondern die ganze Druckeinrichtung übertragen. Ebenso wie er neue Künstler an die Bucharbeit heranzog, hat er nicht nur den bewährten, durch künstlerische Arbeit bekannten Druckereien wie Drugulin, Holten, Breitkopf & Härtel Druckaufträge gegeben, sondern er fand auch von den noch weniger bekannten Offizinen diejenigen heraus, die mit ihm neue Wege gehen wollten, wie Poeschel & Trepte, die Steglitzer Werkstatt, und wußte wieder andere, z.B. die Spamersche Druckerei, durch seine Aufträge überhaupt erst zu geschmackvoller Arbeit anzuregen.«
Um jeden Text aus der ihm gemäßen Schrift zu setzen, wählte Diederichs auch aktuelle, von jungen Malern und Graphikern wie Otto Eckmann, Fritz Helmuth Ehmcke oder Walter Tiemann geschaffene Schriften. Für die hier gezeigten Bände kam anscheinend eine Schrift des 1873 geborenen Richard Grimm-Sachsenberg zum Einsatz, die vermutlich 1908 von der Schriftgießerei Julius Klinkhardt veröffentlichte Schrift ›Neue Römische Antiqua‹.
Gerade in der überaus produktiven Phase des Verlags vor dem Ersten Weltkrieg war Schneidler einer der kreativsten deutschen Buchgestalter. Nach seinem Studium von 1904 bis 1905 bei Peter Behrens und Ehmcke an der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf arbeitete er bis 1924 für Diederichs und gab vor allem einigen Reihen des Verlags, die Diederichs besonders am Herz lagen, ihr typisches Gepräge. So etwa den ersten Bänden der 1912 eröffneten und beinahe 100 Jahre lang erschienenen Reihe ›Märchen der Weltliteratur‹ und eben ›Die Religion und Philosophie Chinas‹, in der chinesische Klassiker, unter anderem von Laotse, Konfuzius, Zhuangzi und das I Ging, die der Stuttgarter Sinologe und Theologe Richard Wilhelm erstmals ins Deutsche übersetzt hatte, in sechs Bänden veröffentlicht wurden. Insgesamt gestaltete Schneidler für Diederichs 29 Titel, wobei er entweder die gesamte Ausstattung eines Buches übernahm oder, wie bei den vorliegenden Bänden, auch nur den Einbandes oder die Doppeltitel zeichnete. Letztere tragen zudem auch das 1910 von Schneidler gestaltete Löwen-Signet des Verlags (es bezieht sich auf den ›Marzocco‹ des Donatello in Florenz). Seine intensive Auseinandersetzung mit chinesischer Literatur, Philosophie und Kalligraphie wird ihn zusätzlich für die Aufträge qualifiziert haben.
Isphording, Eduard: Draufsichten. Buchkunst aus deutschen Handpressen und Verlagen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts . Die Sammlung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Leipzig: Faber & Faber, 2005, bes. S. 33–35 und 69
Caflisch, Max; Kapr, Albert ;SchumacherGebler, Eckehart; Weiss, Antonia; Willberg, Hans Peter: F. H. Ernst Schneidler. Schriftentwerfer, Lehrer, Kalligraph. München: SchumacherGebler, 2002
Eyssen, Jürgen Buchkunst in Deutschland. Vom Jugendstil zum Malerbuch: Buchgestalter, Handpressen, Verleger, Illustratoren. Hannover: Schlütersche Verlagsanstalt, 1980
Diederichs, Ulf (Hrsg.): Eugen Diederichs: Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen. Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag, 1967
Schauer, Georg Kurt: Die Deutsche Buchkunst. 1890 bis 1960. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft, 1963
Die 1912 vom Insel-Verlag unter der Leitung von Anton Kippenberg ins Leben gerufene ›Insel-Bücherei‹ gehört nicht nur zu den erfolgreichsten Buchreihen weltweit, sondern ist, so der Leipziger Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis, »die schönste und ehrwürdigste Buchreihe der Welt« (Video-Beitrag vom 19.3.2014). Kippenbergs Anliegen war es, ansprechend gestaltete Bücher auch für ein breiteres Publikum erschwinglich zu machen. Kennzeichen der billigen Bändchen war ihre relativ hochwertige Ausstattung: Sie waren fest gebunden – bis 1927 wurden die Bände allerdings noch mit Drahtheftung gebunden, erst danach mit Fadenheftung –, mit Buntpapier bezogen und auf gutem Papier einwandfrei gedruckt. Für den Satz wurden unterschiedliche, dem Inhalt angemessene Schriften verwendet.
Exemplar der Erstausgabe des ersten Bandes der Insel-Bücherei von 1912
Ein weiteres Kennzeichen zumindest der bis in die 1970 erschienenen Bände sind das aufgeklebte Titelschild und das aufgeklebte Rückenschild in der Regel mit Angabe des Autors und des Kurztitels. Erst seit den 1980er Jahren werden Titel- und Rückenschild zumindest im Frankfurter Insel-Verlag vor allem aus Kostengründen auf den Einband mitgedruckt und das Titelschild zusätzlich eingeprägt, während im Leipziger Verlag diese noch bis zur Wende in aufwendiger Handarbeit aufgeklebt wurden.
Insel-Bücherei Bd. 544 (1939/Leipzig), 49 (1952/Wiesbaden), 316 (1966/Frankfurt a.M.), 1293 (2015/Frankfurt a.M. u. Leipzig) und 1464 (2019/Berlin)
So ist es jedenfalls meist zu lesen und so hatte ich es bislang auch in Erinnerung – bis ich vor wenigen Tagen vier bebilderte Bände aus den 1930er Jahren erwarb, deren Titel ebenfalls aufgedruckt sind.
Im Katalog der Sammlung Jenne waren in den entsprechenden Einträgen allerdings keine Angaben dazu zu finden. Aber eine stichprobenartige Recherche im online einsehbaren vorzüglichen Katalog der Sammlung Hermann Bresinsky führte zu dem Ergebnis, dass bei einigen in den 1930er und 40er Jahren sowie in Wiesbaden in den 1950er Jahren erschienenen Bänden tatsächlich bereits Titel- und Rückenschild eingedruckt wurden. Und das betrifft nicht nur Bildbände, sondern auch reine Textbände. Der ›Befund‹ wurde schließlich noch durch die folgende Aussage von Annemarie Meiner aus dem Jahr 1937 bestätigt: »Daß heute die Schildchen vielfach aus dem Muster des Einbandes ausgespart und so täuschend eingedruckt worden sind, als wäre sie wie früher aufgeklebt, wer hat das von den Hunderttausenden von Lesern bemerkt?« (Dies.: Die Insel-Bücherei und der Bücherfreund, in: Die Insel-Bücherei 1912–1937. Leipzig: Insel-Verlag, 1937. S. 37 f.) Offenbar kaum jemand.
Literatur
Kästner, Herbert (Hrsg.): Die Insel-Bücherei: Bibliographie 1912–2012. 2., erg.Auf. Berlin: Insel Verlag, 2013
Sarkowski, Heinz; Jeske, Wolfgang; Unseld, Siegfried: Der Insel Verlag 1899–1999. Die Geschichte des Verlags. Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1999. S. 116–124. 372–385. 459–462 u. passim
Kästner, Herbert (Hrsg.): Die Insel-Bücherei: Bibliographie 1912–1999, Insel-Bücherei. Frankfurt a.M. and Leipzig: Insel Verlag, 1999
Kästner, Herbert (Hrsg.): 75 Jahre Insel-Bücherei 1912–1987. Eine Bibliographie. Leipzig: Insel-Verlag, 1987
Plantener, Gerd: Die Insel-Bücherei 1912–1984. Eine Bibliographie. Frankfurt a.M.: Selbstverlag, 1985
Zeller, Bernhard (Hrsg.): Die Insel. Eine Ausstellung zur Geschichte des Verlages unter Anton und Katharina Kippenberg vom 8. Mai bis 31. Oktober 1965 des Schiller-Nationalmuseums, Katalog Bd. 15. Marbach a.N.: Deutsches Literaturarchiv im Schiller-Nationalmuseum, 1965. S. 138–159 u. passim
Sarkowski, Heinz: 50 Jahre Insel-Bücherei 1912–1962. Frankfurt a.M.: Insel-Verlag, 1962
Sarkowski, Heinz (Hrsg.): Der Insel-Verlag: Eine Bibliographie. 1899–1969. Frankfurt a.M.: Insel-Verlag, 1970
Die Insel-Bücherei 1912–1937. Leipzig: Insel-Verlag, 1937
Wieder ein schöner Fund im Neuenheimer Bücherschrank und diesmal sogar ein besonders aufschlussreicher: Die 20. Auflage des Baedekers zu ›Paris und Umgebung‹ von 1931, also 13 Jahre nach dem Ende des Ersten und acht Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, in hervorragendem Zustand, mit allen Karten und dem für die vor dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Ausgaben typischen marmorierten Buchschnitt.
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931
Abgesehen von den bekannten Vorzügen der alten Baedeker, ihren schönen Plänen sowie detaillierten Reiseinformationen und Beschreibungen, nicht nur der Sehenswürdigkeiten, sondern auch von ›Land und Leuten‹, besticht gerade in dieser Ausgabe die angenehm nüchterne Akkuratesse: So wird etwa im Abschnitt über Compiègne auch der Wagon erwähnt, in dem 1918 das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, und zwar mit folgenden Worten:
6km östlich von Compiègne, am Carrefour de l’Armistice, 2km nördl. des Bahnhofs Rethondes (S. 407), empfing am 8. Nov. 1918 Marschall Foch die deutschen Bevollmächtigten (Staatssekretär Erzberger), die am 11. Nov. 5 Uhr vorm. franz. Zeit die Bedingungen des Waffenstillstandes unterzeichneten. Der Salonwagen, in dem dieses Ereignis stattfand, steht seit 1927 in einem Betongebäude am Rande der Lichtung (Eintritt 1 fr.). In der Mitte des Platzes und an den Stellen, wo die beiden Züge standen, sind Steinplatten mit Inschriften angebracht.
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. 406
»Dieses Ereignis« und das zu Beginn der NS-Diktatur – sachlicher geht’s nicht. Im Abschnitt zu Versailles erfährt man zudem:
Im Kriege 1870–71 war Versailles vom 5. Oktober 1870 bis zum 6. März 1871 Sitz des deutschen Hauptquartiers. König Wilhelm wohnte in der Präfektur. In dem Hause Boulevard du Roi Nr. 1 unterhandelten am 23.–24. und 26.–28. Januar Bismarck und Jules Favre über die Kapitulation von Paris und die Friedenspräliminarien. Nach dem Abzug der Deutschen (12. März 187 1) erfolgte von hier aus unter Marschall MacMahon die Bekämpfung der Pariser Kommune. Versailles war dann bis 1879 Sitz der französischen Regierung und der Kammern. Am 28. Juni 1919 wurde in Versailles der Friede zwischen den alliierten Mächten und Deutschland unterzeichnet (vgl. S. 350).
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. 343
Und wenige Seiten später heißt es:
In der Spiegelgalerie fand am 18. Januar 1871 die Verkündigung der Wiederherstellung des deutschen Kaisertums statt und am 28. Juni 1919 die Unterzeichnung des Friedensvertrags mit Deutschland.
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. 350
Punkt. Unglaublich. Nicht einmal ein Hauch von gekränktem Nationalstolz oder Revanchismus! Und das zu einer Zeit, in welcher der Versailler Friedensvertrag von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung als schmachvoller ›Diktatfrieden‹ empfunden wurde, was eine wesentlicher Antrieb für das Aufkommen des Nationalsozialismus war. Unter dem Aspekt erstaunt auch die nüchterne, beinahe wohlmeinende Erwähnung des jüdischen Viertels im Marais:
Die von der Rue Pavée gekreuzte Rue des Rosiers ist der Mittelpunkt des alten Judenviertels, das die engen Straßen zwischen Rue Vieil-du-Temple, Rue de Rivoli und Rue de Turenne umfaßt und noch immer ein Bild unverfälschten jüdischen Volkslebens bietet.
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. 201
Ähnlich respektvoll klingen im einleitenden Kapitel die allgemeinen Hinwiese zu den »Umgangsregeln« für einen Besuch der Hauptstadt des damaligen ›Erzfeindes‹, die man im Wesentlichen auch heute noch beachten sollte:
Wer im Ausland reist, sollte sich stets bewußt sein, daß er überall als Vertreter seines Volkes angesehen wird und daß sein Verhalten und seine Umgangsformen das Urteil über seine Landsleute mitbestimmen. Wenn man sich der Eigenart des fremden Landes und seiner Bewohner anzupassen und im Verkehr höfliche Formen zu wahren weiß, auf die der Franzose besonderen Wert legt, wird man überall Entgegenkommen finden. Selbst im ehemaligen Kriegsgebiet braucht man mit Takt und Zurückhaltung keine Unannehmlichkeiten zu fürchten. Deutsch kann man ungescheut in der Öffentlichkeit sprechen, doch vermeide man allzu laute Unterhaltung, die als Mangel an gesellschaftlicher Bildung beurteilt wird. Eine gewisse Kenntnis der französischen Sprache ist notwendig, wenn man auch in größeren Gasthöfen und in manchen Restaurants deutsch-sprechende Angestellte findet. Man drücke sich kurz und präzise aus und gewöhne sich an die französischen Formen der Höflichkeit, die alle Anreden mit Monsieur, Madame und Mademoiselle zu schließen pflegt und bei Aufträgen auch an den Kellner oft ein s’il vous plaît hinzufügt.
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. XII
Im folgenden geht es dann auch ins Detail:
Beim Passieren eines Leichenzuges nehmen Herren den Hut ab, behalten ihn dagegen im Café und in Kaufläden, sowie im Theater bis zum Beginn der Vorstellung meist auf. Für die vornehmen Restaurants ist abends der Frack (habit) oder Smoking (smoking) kaum zu entbehren; ebenso ist Gesellschaftsanzug während der Saison in manchen Theatern erforderlich. Auf der Straße erteilen die Schutzleute (agents de police; im Pariser Argot ›sergots‹ oder ›flics‹) bereitwillig Auskunft; einige von ihnen sind fremder Sprachen mächtig und tragen Armbinden mit entsprechender Aufschrift. Daß man nachts abgelegene Viertel vermeidet, versteht sich von selbst. Taschendiebe treiben, wie in allen Großstädten, ihr Wesen im Gedränge der Bahnhöfe, Straßenbahnen, Kirchentüren u. dgl. – Über Trinkgelder in den Hotels und Restaurants vgl. S. 3 und 17; auch Chauffeure, die Platzanweiserinnen in den Theatern und Kinos sowie Barbiergehilfen erhalten stets ein Trinkgeld, die Autobus- und Straßenbahnschaffner jedoch in der Regel nicht.
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. XII
Schließlich werden in guter alter Baedeker-Manier zudem landestypische, eigentlich auch heute noch lebendige Eigenarten hervorgehoben, deren Beachtung einen sorgenfreien Aufenthalt in la capitale gewährleisten sollen, so etwa in Hinsicht auf den französischen Verkehr:
Das Kraftfahrwesen ist in Frankreich weiter entwickelt als in Deutschland. Es wird schneller und ›individueller‹ gefahren als bei uns. Fußgänger und Radfahrer nehmen weniger Rücksicht auf Autos und rechnen damit, daß man ihnen ausweicht. Fahrtrichtungsanzeiger sind unbekannt, man gibt Zeichen mit der Hand.
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. XV
Ein weiteres bemerkenswertes Merkmal der alten Baedeker ist bekanntlich deren Aufmerksamkeit gegenüber kulturellen Aspekten. So widmet der Paris-Band ganze 22 Seiten einer zusammenfassenden Darstellung der »Französischen Kunst«, in der aufgrund der Nachbearbeitung durch den jüdischen Archäologen und Kunstkritiker Hans Nachod vergleichsweise ausführlich auch auf zeitgenössische Strömungen, etwa in der Architektur, eingegangen wird:
In der privaten Bautätigkeit, besonders im Siedlungswesen, sind unter der Führung von Baumeistern wie Sauvage, Robert Mallet-Stevens, Le Corbusier, André Lurçat u.a. bemerkenswerte Fortschritte gemacht werden. Die Neubauten, die in verschiedenen Stadtquartieren, in Passy, am Park von Montsouris und vor allem auch an Stelle des niedergelegten Befestigungsgürtels entstehen, suchen vielfach mit glücklichem Erfolg die neuen Ansprüche an Hygiene und Raumverteilung zu verwirklichen und sind entschiedene Bekenntnisse zur Einfachheit in der äußeren Erscheinung.
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. LIII
Gerade die Ausführungen am Ende des Kapitels sind in Anbetracht der Tatsache, dass bereits 1930 in Deutschland erste offizielle Maßnahmen gegen Künstler der ›Klassischen Moderne‹ ergriffen wurden, bemerkenswert. So schreibt Nachod:
Gegenüber der fortschrittlichen Bewegung in der Architektur sind die neueren Strömungen in Malerei und Plastik weniger einheitlich und haben noch nicht zu einem ausgesprochenen neuen Stil geführt, der sich weithin Anerkennung verschafft hätte. Das internationale Künstlertum in Paris, das in den letzten Jahren immer mehr aus der Montmartre-Gegend nach dem Montparnasse hinüberzieht, gehört ebenso wie das einheimische einer großen Zahl von widerstreitenden Richtungen an. Neben dem Kubismus, der zur abstrakten Malerei geführt hat, und in dem vor allem der Spanier Pablo Picasso eine führende Rolle einnimmt, ist neuerdings die dem Impressionismus sich nähernde bewußt primitive Landschaftsmalerei des Maurice Utrillo beliebt geworden; eine besondere Richtung, des Surrealismus, sucht gar außerhalb der bildenden Kunst liegende Einwirkungen auf das Gemütsleben des Beschauers zu erreichen. Im Sinne Cézannes gehen ihre eigenen Wege beachtenswerte Maler wie Henri Matisse, Vlaminck, Derain. Im Luxemburg-Museum sind bisher nur wenige der neuesten Künstler vertreten. Dafür hat der Fremde Gelegenheit, die Mannigfaltigkeit dieses künstlerischen Schaffens in den Salons und in den zahlreichen Galerien und Kunsthandlungen kennen zu lernen.
Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. LIII f.
Wie gesagt, wenn man den historischen Rahmen des Bandes bedenkt, so erscheint der ruhige, sachliche und respektvolle Stil überaus erstaunlich. Und nur zwei Jahre nach seinem Erscheinen wurde Hitler zum Kanzler ernannt, wenig später wurden die Gleichschaltungsgesetze erlassen, was einschneidende Folgen auch für das gesamte Verlagswesen hatte, und als sichtbarstes Zeichen der Katastrophe fanden die Bücherverbrennungen statt.
Marcus Behmer spielte bei der Ausstellung »›Wie ein fruchtbarer Regen nach langer Dürre …‹. Buchkunst des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland«, die von Mai 2018 bis Anfang 2019 in der Heidelberger Universitätsbibliothek gezeigt wurde, selbstverständlich eine große Rolle. Es wurden mit Oscar Wildes ›Salome‹ und Honoré de Balzacs ›Das Mädchen mit den Goldaugen‹, 1903 und 1904 jeweils im Insel-Verlag erschienen, auch zwei seiner frühesten Buchprojekte gezeigt, zu denen er Doppeltitel, Zeichnungen und Buchschmuck beigesteuert hat.
Homers Ilias und Odyssee. 5. und 6. Behmer-Druck. Berlin: Askanischer Verlag, 1923/24 (Titel)
Wer diese und andere buchkünstlerischen, typographischen Arbeiten von ihm gesehen hat, der wird den Namen nicht mehr vergessen. So war es nur selbstverständlich, dass ich ein Angebot der von Behmer gestalteten und in seiner Schrift gesetzten homerischen Epen, der Ilias und der Odysee, nicht abschlagen konnte, auch wenn ich mich wegen der Voßschen Übersetzung zunächst sträubte. Nicht nur als Heidelberger Absolvent sind mir die Übersetzungen durch Roland Hampe lieber. Aber hier hat die Freude am schönen Buch und seiner Typographie am Ende obsiegt.
Homers Ilias. Deutsch von Johann Heinrich Voß, mit Holzschnitten von Ludwig von Hofmann. 5. Behmer-Druck. Berlin: Askanischer Verlag, 1923
Bei den beiden Bänden handelt es sich um das fünfte und sechste Buch der ›Behmer-Drucke‹, die in den Jahren 1923 und 1924 bei der renommierten Berliner Druckerei Otto von Holten gedruckt und mit Holzschnitten von Ludwig von Hoffmann ausgestattet wurden. Gesetzt wurde der Text, wie geschrieben, aus der bei Klingspor geschnittenen Antiqua von Behmer, der auch die Aufsicht über die Gesamtgestaltung innehatte. Verlegt wurden beide Bände im Askanischen Verlag.
Alle vier Beteiligte – Illustrator, Verlag, Gestalter und Druckerei – hat Behmer in der für ihn typischen Art als Anagramm in einer goldgeprägten Vignette, gestaltet aus den Initialen ›LvH‹, ›AV‹, ›MB‹ und ›OvH‹, auf dem Hinterdeckel zusätzlich gewürdigt.
Homers Ilias und Odyssee. 5. und 6. Behmer-Druck. Berlin: Askanischer Verlag, 1923/24 (Einband)
Literatur
Hall, Peter Christian: Delphine in Offenbach – Marcus Behmer. Meister der kleinen Formate, Katalog zur Ausstellung im Klingspor Museum zu Offenbach vom 12. Juli bis 2. September 2018. Offenbach: Klingspor-Museum, 2018
Jensen, Bernhard: Ein Kanon der jüdischen Renaissance. Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches. Göttingen: Wallstein Verlag, 2017. S. 72–74 und passim
Haucke, Marcus (Hrsg.): Marcus Behmer – Aquarelle, Bücher, Graphik, Exlibris, Neujahrswünsche, „Täfele“, Zeichnungen. Katalog der Ausstellung mit den Verzeichnissen der Schriften, der illustrierten Bücher und originalgraphischen Beiträge, der Mappen und der Neujahrswünsche u.a., Katalog Antiquariat Marcus Haucke. Berlin : Galerie im Antiquariat Marcus Haucke, 2001
Homeyer, Fritz: Erinnerungen an Marcus Behmer, Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde NF. IV, 1963/64, S. 67–74
Rodenberg, Julius: Deutsche Pressen. Eine Bibliographie. Wien: Amalthea-Verlag, 1925. S. 244
Loubier, Hans: Die neue deutsche Buchkunst. Stuttgart: Krais, 1921. S. 70–73
Was kommt heraus, wenn sich versierte Graphiker mit der typographischen Geschichte befassen und sich von vergangenen ›Perlen‹ der Buchgestaltung inspirieren lassen? Schöne Bücher für den schmalen Geldbeutel. So geschehen bei der vom Deutschen Taschenbuch Verlag in Zusammenarbeit mit C.H.Beck 2005 ins Leben gerufenen Taschenbuchreihe ›Kleine Bibliothek der Weltweisheit‹, deren Einbände vom renommierten englischen Gestalter David Pearson entworfen wurden.
Auswahl aus ›Kleine Bibliothek der Weltweisheit. München: dtv und C.H.Beck (2005–)‹
Pearsons Stil ist wesentlich typographisch, durch die Schrift inspiriert: »It is certainly revivalist, which is another way of saying that I steal from the past. typography is almost always the main ingredient and this, along with a limited colour palette, tends to give my work a unified look.« (Interview im Magazin ›designboom‹ am 21.1.2014: https://www.designboom.com/design/interview-with-graphic-designer-david-pearson-01-21-2014/).
Und so ist Pearson anscheinend auch bei den Umschlägen der dtv-Reihe vorgegangen, die mit mehr oder weniger engen Bezügen zu historischen Schriften und Büchern spielen und diese in eine reizvolle Gestaltung umsetzen: So hat Pearson beim Epikur-Band, dem griechischen Philosophen des 4./3. Jahrhunderts v.Chr., zwar Buchstabenformen griechischer Inschriften aufgegriffen, aber sie gehen mehrheitlich nicht auf solche der hellenistischen Zeit zurück, sondern der Archaik, also des 7. und 6. Jahrhunderts v.Chr. In dem Fall war ihm vermutlich der typographische Reiz der Lettern wichtiger als eine historische Präzision.
Anders bei der Gestaltung des Bandes von Marc Aurels ›Selbstbetrachtungen‹. Bei ihm hat sich Pearson offenbar an ungefähr zeitgenössische Schriften des Kaiserphilosophen orientiert, in dem er die Capitalis Monumentalis öffentlicher Inschriften des 2. Jahrhunderts übernahm, wie z.B. jene der Traians-Säule.
Für den Umschlag des Bandes ›Michel de Montaigne: Von der Freundschaft‹ übernahm Pearson wiederum konkret eine zeitgenössische Vorlage, die mit Montaigne selbst indes wenig zu tun hat: Es handelt sich um den Titel einer deutschen Übersetzung von Ovids Metamorphosen ›P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche vnnd seltzame Beschreibung, von der Menschen, Thiern, vnd anderer Creaturen veränderung, auch von dem Wandeln, Leben und Thaten der Götter, Martis, Venerii und Mercurii, etc‹, gedruckt und verlegt in Frankfurt a.M 1581 von Sigmund Feyerabend.
Ein engerer historischer Bezug ist beim Boethius-Band augenfällig: Der römische Gelehrte und Politiker Boethius wirkte vor allem während der Herrschaft des Ostgotenkönigs Theoderich den Großen, also im frühen 6. Jahrhundert. Auf seinem Einband zitiert Pearson treffend die Rundbogen-Arkaden, die jeweils den unteren Rand der Seiten der ›Wulfila-Bibel‹ respektive des Codex Argenteus zieren, der Anfang des 6. Jahrhunderts in Norditalien, möglicherweise in Ravenna für Theoderich, entstanden ist. Zudem sind die Buchstaben des Titels der dort verwendeten ›gotischen Schrift‹ nachgebildet.
Und schließlich lehnt sich Pearson bei der Gestaltung der beiden Nietzsche-Bände – ›Also sprach Zarathustra‹ und ›Ecce Homo‹ – sehr eng an die beiden berühmten Ausgaben an, die Henry van de Velde 1908 für den Insel-Verlag gestaltet hat. Beim ›Ecce Homo‹ diente der Doppeltitel als Vorbild, beim ›Zarathustra‹ der vordere Einbanddeckel.
Soweit einige Beispiele der typographischen Bezüge. Ein weiterer Clou der Umschläge ist aber, dass die Schriften auf den Vorderdeckeln nicht einfach gedruckt wurden, sondern sie sind zweifarbig rot und schwarz vertieft geprägt, was der Handhabung der Bände einen besonderen Reiz verleiht. Insofern ist die Ausstattung schon fast zu edel für ein Taschenbuch, oder, positiv formuliert, sie sind es durchaus wert, auch ins Bücherregal gestellt zu werden.
Zu den Ausführungen von Hans Peter Willberg (s.u.) passt vorzüglich ein Text von Hans von Weber (1872–1924), einem der eigenwilligsten und künstlerisch ambitioniertesten deutschen Verleger des frühen 20. Jahrhunderts, den er 1913 in seiner Zeitschrift ›Der Zwiebelfisch. Eine kleine Zeitschrift für Geschmack in Büchern und anderen Dingen‹ veröffentlicht hat. Im Unterschied zu seinem ersten bibliophilen und buchkünstlerisch aufwendigen Zeitschriften-Projekt, ›Hyperion‹, war dem ›Zwiebelfisch‹ eine erheblich längere Lebenszeit beschert. Er wurde erst 1934, nach von Webers Tod, eingestellt.
Von Webers kurze Einführung in die ›Faschingsausgabe‹ ist denn auch charakteristisch für den im ›Zwiebelfisch‹ gepflegten Tonfall:
Dieses kleine Vademecum ist genauso unpünktlich wie der ›Zwiebelfisch‹ selbst: ein Faschingsheft, das nach den Fasten erscheint! Aber da an ihm schließlich alles ungehörig ist [was nicht korrekt ist, s.u.], sowohl die Art, wie es die Kollegen seines Verlegers nicht nur, sondern auch diesen selbst behandelt, als auch die Direktionslosigkeit, mit der es die unpassendsten Schriften wild durcheinander anwendet, möge, wie man oft ja gerade die ungezogensten Kinder am liebsten hat, auch ihm in Bausch und Bogen verziehen werden!
Hans von Weber (Hrsg.): Das kleine Zwiebelfisch-Kulturkratzbürsten-Vademecum. München: Hyperionverlag, 1913. S. 4
Beispielhaft für die skizzierte Verfahrensweise im ›Zwiebelfisch‹ ist von Webers spöttischer Beitrag zur Trennung des »Zwillingspaars« Ernst Rowohlt und Kurt Wolff 1912, der mit Karikaturen von Emil Preetorius illustriert ist.
Doch zurück zum ›guten Buch‹: Gleichsam in der Nachfolge von William Morris (s. den Beitrag ›Buchkunstbewegung um 1900‹), stilistisch aber abweichend vom eher humoristischen Tonfall der übrigen Beiträge beschreibt von Weber in dem Text sehr klar die für ihn wesentlichen und erstrebenswerten Merkmale eines ›guten Buches‹ in Bezug auf das Papier, den Druck, den Satz, den Einband und den Buchschmuck. Mit Ausnahme natürlich seiner Bemerkungen zur für den Buchdruck typischen Schattierung, dem durch den Eindruck der Typen in das Papier auf der Rückseite desselben fühlbaren und nicht selten auch sichtbaren Relief oder Prägung, sind seine Bemerkungen grundsätzlich nach wie vor gültig.
Literatur:
Schulte Strathaus, Ernst; von Weber, Wolfgang: Hans von Weber und seine Hundertdrucke, in: Sarkowski, H.; Hack, B. (Hrsg.): Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Bd. N.F. 6. Frankfurt a.M.: Gesellschaft der Bibliophilen, 1969. S. 132–133
Schauer, Georg Kurt: Die Deutsche Buchkunst. 1890 bis 1960. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft, 1963. S. 103
Bachmair, Heinrich F. S.: Drei Außenseiter: Julius Zeitler, Hans von Weber, Der Tempel-Verlag, in: Buchenau, S.; Bauer, K. F. (Hrsg.): Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Bd. 9. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen, 1940. S. 74–75. 78