Welttag des Buches – des schönen Buches

1995 erklärte die UNESCO den 23. April zum ›Welttag des Buches‹, »dem weltweiten Feiertag für das Lesen, für Bücher und die Rechte der Autoren«. Es sei hier ergänzt: dem Feiertag für das schöne Buch.

Hans Loubier: Die neue deutsche Buchkunst. Stuttgart: Krais, 1921 (Einband)

Aus diesem aktuellen Anlass sei eine Empfehlung zur Lektüre und zum Genuss schöner Buchgestaltung erlaubt: Hans Loubier: Die neue deutsche Buchkunst. Stuttgart: Krais, 1921.

Loubier, geboren 1863 in Berlin, war Bibliothekar, Buch- und Einbandforscher sowie langjähriger Mitarbeiter Peter Jessens an der Staatlichen Kunstbibliothek in Berlin. Er begleitete und befasste sich intensiv mit der Buchgestaltung in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts und hatte mit seinen Schriften, unter anderem mit dem zitierten Band, erheblichen Einfluss auf die ›Buchkunstbewegung‹, die wiederum auch für die Entwicklung der heutigen Buchgestaltung bedeutsam war. (https://www.arthistoricum.net/themen/va/buchkunst-deutschland/ausstellung/ii)

In dem Band, der heute noch überraschenderweise antiquarisch für wenig Geld zu bekommen ist – die UB Heidelberg bietet allerdings auch ein Digitalisat an: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/loubier1921 –, beschreibt Loubier ausführlich die Entwicklungen der Buchgestaltung bis zu Beginn der 1920er Jahre, ausgelöst durch das Arts and Crafts Movement in England und die Arbeiten der Kelmscott Press von William Morris, und geht dabei auf die verschieden deutschen Protagonisten, die ›Privatpressen‹, Buchkünstler und -gestalter, Drucker, Verleger und Schriftgestalter ein. Ergänzt wird der ergiebige und aus der ›Behrens-Antiqua‹ sorgfältig gesetzte Text mit über 150 Abbildungen, die Textbeispiele und Einbände, aber auch zahlreiche Schriftproben umfassen. Allein der Einband, gestaltet von Walter Tiemann, ist ein optischer Genuss.

Damals wie heute scheinen diesem Genuss gegenüber jedoch nur vergleichsweise wenige Menschen aufgeschlossen zu sein, wie das Zitat von Loubier zu Beginn des ersten Kapitels zeigt:

Ein gutes Buch in schöner Form bedeutet einen verdoppelten Genuß. Die schöne Form erhöht den Genuß des Lesens. Wir haben eine ähnliche Empfindung, wenn wir einen edlen Wein aus einem edelgeformten Glase trinken, wenn uns eine köstliche Frucht auf einer köstlichen Schale dargereicht wird. Gewiß, das ist Gefühlssache, aber alles Ästhetische ist Gefühlssache. Freilich weiß ich aus Erfahrung, daß bei Büchern nur eine Minderheit solche ästhetische Empfindungen hat. Der Deutsche ist im Durchschnitt mehr literarisch als künstlerisch gebildet, er weiß nach dem Inhalt gute und schlechte Bücher zu unterscheiden, aber es fehlt ihm meistens das Gefühl, äußerlich schöne und unschöne Bücher zu unterscheiden. Ja ich kenne weit mehr Leute, die eine seine Goldschmiedearbeit, eine schöne Vase, ein gutes Möbel, einen kostbaren Stoff eher zu würdigen vermögen, als ein schön gedrucktes und schön gebundenes Buch.«

Hans Loubier: Die neue deutsche Buchkunst. Stuttgart: Krais, 1921. S. 1

Loubier und der Autor halten es dagegen mit Michel de Montaigne, den Loubier folgendermaßen zitiert:

Obgleich ich niemals ohne Bücher reise – auch in Kriegszeiten nicht –, kann es doch vorkommen, daß ich sie Tage oder selbst Monate lang nicht ansehe. Ich sage mir dann, es soll nächstens geschehen oder morgen oder wann es mir passen wird. Und inzwischen läuft die Zeit weiter und vergeht, ohne daß es mich schmerzt. Denn ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich in der Gewißheit verweile und ausruhe, daß sie mir zur Hand sind, um mir zu gelegener Zeit Freude zu bereiten, und wie sehr ich die Hilfe, die sie meinem Leben bringen, zu schätzten weiß. Ich halte Bücher für die beste Munition auf der menschlichen Lebensreise und beklage alle Leute von Intelligenz, denen sie fehlen.

Hans Loubier: Die neue deutsche Buchkunst. Stuttgart: Krais, 1921. S. 1 f.

Eine Rede als Schriftprobe

Was für ein schönes, geschmackvolles ›Geschenk‹ machte diese Woche die Internationale Gutenberg-Gesellschaft in Mainz e.V. ihren Mitgliedern!

Die Dankesrede der Typographin und Schriftstellerin Judith Schalansky für ihre Ernennung zur Mainzer Stadtschreiberin im Jahr 2014 in Form einer Schriftprobe. Sehr originelle Idee und hervorragend umgesetzt, nicht nur die Gestaltung von Schalansky und Jennifer Kroftova, sondern auch und vor allem der Druck im Buchdruckverfahren mit Photopolymer- respektive Nyloprint-Klischees, der, wie bereits der vorherige ›Kleine Druck‹ Nr. 114, von Daniel Klotz von den Lettertypen in Berlin auf einer alten Heidelberger Zylinder Druckmaschine ausgeführt wurde. Es ist sehr erfreulich, dass die renommierte Gutenberg-Gesellschaft den tradionellen Buchdruck nach wie vor wertschätzt und junge Werkstätten, die noch in diesem Verfahren drucken, mit solchen Aufträgen unterstützt.

Grundsätzlich bin ich kein Freund von Nyloprint-Klischees, weil der Satz am Rechner erstellt wird und der wichtige Werkprozess des Handsatzes wegfällt (dazu s. u.a. folgende Diskussion https://www.typografie.info/3/topic/37036-hipster-entdecken-papier/#comment-242073). Tatsächlich erscheinen die bisherigen ›modernen‹ Buchdrucke im Vergleich zu sorgfältig im Bleisatz erstellten Drucken auch nicht überzeugend. Im vorliegenden Fall ist das Ergebnis aber überaus gelungen, abgesehen davon, dass sich die Wiedergabe moderner, digitaler Schriften auch nicht anders hätte im Buchdruck realisieren lassen.

Schließlich ist auch der Text sehr lesenswert:

Jedes Buch ist eine Flaschenpost, die uns durch das Meer der vergangenen Zeiten erreicht – in Inhalt und Form seiner Zeit und lebenswirklichkeit verhaftet, vo der es noch immer erzählt. Diese Abgeschlossenheit jedoch erscheint nur jenen unpraktisch, der das Vergangene für ein entwicklungsgeschichtlich zurückgebliebenes Brückentier halten, das nötig war um die Gegenwart zu erreichen. Jenem hemmungslos gefrönten Fortschrittsglauben sei entgegengehalten, dass es nicht allzu viele Anhaltspunkte dafür gibt, dass sich alles stetig in Richtung Vollkommenheit entwickelt. Es erscheint einfach nur aus Lebenserhaltungsgründen unumgänglich, uns genau das einzubilden.


Schalansky, Judith: Der fischäugige Konsul. Mainzer Dankesrede als Musterbuch ausgewählter Schriften, Kleine Drucke 115. Mainz: Internationale Gutenberg-Gesellschaft in Mainz e.V., 2024.

Hier passen Form und Inhalt auf vorbildliche und attraktive Weise zusammen.

Das Ende der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft

Die einst renommierte Wissenschaftliche Buchgesellschaft, kurz wbg (die Website ist aktuell [8.1.2024] nur noch sehr eingeschränkt nutzbar, weshalb zur Information über die Geschichte der wbg der entsprechende Wikipedia-Artikel empfohlen wird), die viele Geisteswissenschaftler – in meinem Fall mit Beginn meines Studium in den späten 80er Jahren – begleitet und zuverlässig mit Grundlagenliteratur versorgt hat, ist seit Ende vergangenen Jahres de facto Vergangenheit und seit kurzem de iure nur noch eine Marke, ein ›Imprint‹, wie es im Verlagsjargon heißt, des Herder Verlags (https://www.boersenblatt.net/news/verlage-news/herder-uebernimmt-teile-der-wbg-314143). Wie die wbg in den vergangenen Jahren sich zahlreiche bedeutende Verlage, z.B. Theiss und Philipp von Zabern, einverleibt und damit gleichsam aufgelöst hat, so wird nun auch sie geschluckt und auf kurz oder lang wohl auch bedeutungslos werden. Bezeichnend für den Bedeutungsschwund der wbg in den vergangenen Jahren ist auch das Medienecho sowohl auf die Insolvenz-Ankündigung im Oktober und die Übernahme durch Herder: Neben den Fachmagazinen böresenblatt, Buchreport und Buchmarkt berichteten nur zwei überregionale Zeitungen mit eigenen Beiträgen darüber, und diese haben ihren Sitz auch noch in Hessen: Die Frankfurter Rundschau mit einem Artikel und die FAZ gleich mit drei Artikeln im Oktober (12.10.2023, 17.10.2023 und 21.10.2023), davon einer sogar vom Althistoriker Uwe Walter. Süddeutsche Zeitung und Zeit reichten nur die dpa-Meldung weiter. Für vormals eines der bedeutendsten deutschen Verlagshäuser für geisteswissenschaftliche und theologische Literatur ist das erschreckend wenig.

Die 1946 gegündete wbg sei »im vergangenen Jahr infolge einer nicht erfolgreichen IT-Umstellung, aber auch angesichts der aktuell schwierigen Lage im Buchhandel in eine Liquiditätskrise geraten«, was im Oktober zur »Eröffnung eines Insolvenzverfahrens« und schließlich nach diversen Rettungsversuchen zur Auflösung der wbg geführt habe (Quelle: https://buchmarkt.de/herder-uebernimmt-teile-der-wissenschaftlichen-buchgesellschaft-wbg/). Mag sein, in meinen Augen hat die wbg aber schon seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten durch ihre ›Anbiederung‹ an einen Massenmarkt etwa durch Aufnahme stark populärwissenschaftlicher Titel ins Programm wesentlich an Qualität verloren, sich durch die Übernahme kostspieliger Lizenztitel verkalkuliert und durch das erwähnte Aufsaugen von Konkurrenzverlagen gleichsam aufgebläht und verzettelt. Man könnte es auch mit Uwe Walter schlichter beschreiben: »Später zeigte sich eine gewisse Orientierungslosigkeit.« (https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/das-ende-der-wbg-caesar-zog-die-kaeufer-an-19247987.html). Letztlich halte ich es mit Walter, wonach mit dem Ende der wbg, »wieder ein Stück Heimat verloren« gegangen sei, wobei ich mich dort allerdings schon seit Jahren nicht mehr wirklich heimisch gefühlt habe.

Damit gibt es am deutschen Markt nur noch eine bedeutende Buchgemeinschaft, nämlich die Büchergilde Gutenberg.

Website der Büchergilde Gutenberg (screenshot vom 8.1.2024)

Sie feiert dieses Jahr ihren 100. Geburtstag und ist durch ihre erfolgreiche Umwandlung in eine Genossenschaft, eine kluge Verlagsführung und ein attraktives Programm nach wie vor sehr lebendig. Damit die Büchergilde sich aber weiterhin dem guten, lesenswerten und schönen Buch widmen und es gegen den Strom der Beliebigkeit vertreiben kann sowie zugleich ihre Unabhängigkeit behält, braucht sie als Genossenschaft Unterstützung durch weitere Mitglieder. Informationen dazu finden sich auf der Website unter https://buechergilde.de/genossenschaft-genoss:in-werden.

Felix Timmermans – Zeichner und Schriftsteller

Offenbar schätzen manche Menschen auch nicht mehr ihre schönen alten Bücher. So fand sich gestern im Bücherschrank auch eine Ausgabe von Felix Timmermans bekanntestem Roman ›Pallieter‹ aus dem Insel-Verlag.

Der Band ist zwar von 1943 (die deutsche Erstausgabe erschien 1921 im Insel-Verlag), und die Seiten sind entsprechend etwas nachgedunkelt. Aber er ist insgesamt gut erhalten und so schön gestaltet, wie es für die Bände des Insel-Verlags damals üblich war, mit hübschen kleinen, einfachen Zeichnungen des Autors und gesetzt anscheinend aus der entzückenden Unger-Fraktur.

Das Buch ist ein guter Beleg für die von Ferdinand Puhe treffende Charakterisierung Timmermans als einen

»[…] Künstler, der mit Worten malt und mit dem Malerpinsel und dem Zeichenstift erzählt.«


Puhe, Ferdinand: »Ich habe zunächst einmal eine Gier beim Malen …«. Felix Timmermans – Schriftsteller und Illustrator. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie Bd. 242, Heft 2021/3 (2021), S. 65

Lesenswertes aus dem Bücherschrank

Schon merkwürdig – und in dem Fall auch bedauerlich –, was die Leute so alles nicht mehr lesen oder zuhause haben wollen. Gestern im Neuenheimer Bücherschrank gefunden: Ödön von HorváthsGeschichten aus dem Wiener Wald‹ aus der Bibliothek Suhrkamp.

Ein schlichtes, solide gemachtes Buch, wie es sein sollte, an dem nichts ablenkt, mit einem fulminanten Inhalt: Wie entsteht brutales, rücksichtsloses, faschistisches Denken? Dummheit ist ein wesentlicher Faktor, weshalb auch der folgende, überaus bemerkenswerte Satz dem Stück als Motto vorangestellt ist:

»Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit.«

Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald

Zu Horváth, einem heute mehr denn je lesenswerten Schriftsteller, siehe oder, besser gesagt, höre etwa die WDR-Sendung ›ZeitZeichen‹ vom 15.4.2018: 01.06.1938 – Todestag Ödön von Horvath

Vom Spieß zum Buch

Bücher werden in der Regel als fertiges, makelloses Produkt wahrgenommen, das keine Spuren seines Fertigungsprozesses aufweist oder aufweisen soll. Nur ein sichtbarer Fehler kann auf seine Genese und diese ›Vergangenheit‹ hinweisen. Im Falle der heutigen, im Desktop-Publishing und Offset-Verfahren erstellten Bücher finden die einzelnen Fertigungsschritte, der Satz, der Druck und die Bindung, auch für die Beteiligten jedoch meist im Verborgenen statt, im Rechner, in der abgeschirmten Druckmaschine oder auf der Fertigungsstraße der Buchbinderei. Anders sieht es hingegen bei Büchern aus, die im Bleisatz und Buchdruck gefertigt wurden. Hier gibt es keine Blackbox, die einzelnen Fertigungsschritte sind für Setzer und Drucker einsehbar, hörbar und fühlbar, sinnlich erfahrbar. Und im fertigen Buch sichtbare Fehler rufen diese Arbeitsschritte geradezu unvermittelt während der Lektüre, bei der man an den Text denkt und nicht an die Fertigung seines Trägers, in Erinnerung, führen dem Leser die ›individuelle Biographie‹ des Buches vor Augen und werfen es in seine ›Kindheit‹ zurück. Voraussetzung ist natürlich, dass der Leser den Fehler erkennt und die Spur lesen kann.

Solche Spuren der Vergangenheit eines Buches wirken umso intensiver, weil unerwartet, je makelloser es aufgrund des hohen Qualitätsanspruches des Verlages sein soll. Ein Beispiel ist hier der Band ›Griechische Märchen‹ aus der berühmten, ursprünglich von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Reihe ›Die Andere Bibliothek‹, der 1987 erschienen ist und von Franz Greno gestaltet sowie in seiner Werkstatt gesetzt und gedruckt wurde. Auf Seite 280 ist am Ende der Überschriftzeile ein schwarzer Fleck mit rechteckigem Umriss zu erkennen, bei dem es sich um den Abdruck eines Ausschlussstückes, vielleicht eines Viertelgevierts handelt, ein sogenannter Spieß.

Ausschluss- oder Blindmaterial soll den Raum einer Zeile füllen, der nicht mit Text gefüllt ist, und folglich nicht mitgedruckt werden (daher ›blind‹).

Während des Druckens ist ein Stück offenbar hochgerutscht, wurde eingefärbt und dann doch mitgedruckt. Das kann verschiedene Gründe haben, aber hier war entweder der Setzer verantwortlich, der die Zeile zu fest ausgeschlossen hat, wodurch sie unter zu viel Spannung stand, oder der Drucker hat die Form vor dem Einheben in die Maschine nicht richtig geschlossen. Jedenfalls scheint der Fehler dem üblicherweise sonst strengen Blick von Grenos Mitarbeitern entgangen zu sein. Im Auge des Druckers ist der Spieß natürlich ein Fehler, für den Leser aber letztlich ein außergewöhnlicher, wenn auch unfreiwilliger Hinweis auf den aufwendigen Fertigungsprozess der Bücher dieser Reihe, die noch bis 1996 im Bleisatz und Buchdruck hergestellt wurden, der es gleichsam auch materiell nahbar macht.

Literatur

  • Haefs, Wilhelm; Schmitz, Rainer: Die Chronik der Anderen Bibliothek. Bände No. 1–400. Berlin : Die Andere Bibliothek, 2018
  • Boehncke, Heiner; Sarkowicz, Hans: Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten. Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen, Kometen der Anderen Bibliothek. Berlin: AB – Die Andere Bibliothek, 2014
  • Wörgötter, Michael; Schnotale, Heike: Bleisatz. Ein Werkstattbuch. Bonn: Rheinwerk Verlag, 2022 (erscheint voraussichtlich im November)
  • Bauer, Friedrich: Anfangsgründe für Schriftsetzer.Kleine Fachkunde. 12., neu bearb. Aufl. Frankfurt a.M. : Polygraph, 1967
  • Davidshofer, Leo; Zerbe, Walter: Satztechnik und Gestaltung. Schweizerisches Fach- und Lehrbuch für Schriftsetzer. 3. Aufl. Zürich: Bildungsverband Schweizer. Buchdrucker, 1954

Über das Lesen – und die Queen

Bennett, Alan: Die souveräne Leserin, Salto. Bd. 155. 18. Aufl. Berlin: Wagenbach, 2016

Bekanntlich finden sich in öffentlichen Bücherschränken allerlei mehr oder weniger bemerkenswerte Bücher. Aber dieser schmale Band mit einer fiktiven Geschichte des englischen Schriftstellers Alan Bennett über die Leseerfahrungen der Queen mit abschließender überraschender Wendung, über die man gerade in diesen und vergangenen Tagen des öfteren öffentlich diskutiert, war es allemal wert mitgenommen und gelesen zu werden, nicht zuletzt natürlich weil er in der vorzüglichen Reihe SALTO des Verlags Klaus Wagenbach erschienen ist (hier in der 18. Auflage!). Bei dessen Anblick stellte sich natürlich unvermittelt die Frage, warum jemand diesen Band überhaupt abgeben wollte.

Es ist eine entzückende Geschichte, durch die man zwar auch auf sehr amüsante und zugleich nachdenkliche Weise etwas mit der Queen in Kontakt zu kommen meint, aber die vor allem vom ›Zauber‹ des Lesens handelt. Bereits auf den ersten Seiten lässt Bennett die Queen folgende treffliche Erkenntnis über das Lesen aussprechen:

»Aber Informieren ist nicht gleich Lesen. Es ist im Grunde sogar das Gegenteil des Lesens. Information ist kurz, bündig und sachlich. Lesen ist ungeordnet, diskursiv und eine ständige Einladung. Information schließt ein Thema ab, Lesen öffnet es.«


Bennett, Alan: Die souveräne Leserin, Salto. Bd. 155. 18. Aufl. Berlin: Wagenbach, 2016. S. 22

Und heißt es nicht, wir lebten aktuell im ›Informationszeitalter‹? Bedauernswert und ein Grund mehr, schöne und gute Bücher zu lesen, was das Zeug hält.

Schneidler und Diederichs

Eine schöne Überraschung gab es vor einigen Tagen, als mir eine freundliche Nachbarin neben diversen Büchern auch drei Bände des Eugen Diederichs Verlag mit Illustrationen von F. H. Ernst Schneidler schenkte:

Kungfutse: Gespräche (Lun Yü), Die Religion und Philosophie Chinas. Bd. 1. Jena: Diederichs Verlag, 1910

Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund (Tschung Hü Dschen Ging). Die Lehren der Philosophen Liä Yü Kou und Yang Dschu, Die Religion und Philosophie Chinas. Bd. 8,1. Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1911

Mengzi: Mong Dsi (Mong Ko), Die Religion und Philosophie Chinas. Bd. 4. 2. Aufl. Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1921

Beide – Diederichs und Schneidler – haben zwischen 1909 und 1924 zahlreiche Buchprojekte miteinander realisiert und gehörten zu den wichtigsten Protagonisten der Buchkunstbewegung in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie wurden auch in der Ausstellung der Heidelberger Universitätsbibliothek 2018/19 ausführlich vorgestellt.

Der Verleger Eugen Diederichs (1867–1930) gilt als Wegbereiter der neuen Buchkunst in Deutschland und wird in der 1912 erschienenen Heidelberger Dissertation von Helmut von Steinen als »der Prototyp des modernen deutschen Kulturverlegers« bezeichnet. Beeinflusst von den Ideen William Morris’ setzte er von Beginn an seine Vorstellungen von einer hochwertigen Ausstattung insbesondere des ›Gebrauchsbuchs‹ durch. Die Gestaltung des Einbands und des Textes, der Buchschmuck und die Papierwahl mussten aufeinander abgestimmt werden und dem Inhalt des Buches entsprechen. Besondere Aufmerksamkeit widmete Diederichs bei seinen Büchern dem Innentitel, während der Textteil meist keinerlei Schmuck aufweist, wie es auch bei den hier vorgestellten Bänden der Fall ist.

Das folgende Zitat aus einem Beitrag des Bibliothekars und Buchwissenschaftlers Jean respektive Hans Loubier zur ›neuen Buchkunst‹ von 1910 umreißt die Bedeutung Diederichs recht präzise:

»Wenn wir nach den Verlegern fragen, die zuerst auf eine zeitgemäße künstlerische Durchbildung ihrer Verlagswerke in Druck, Satz, Buchschmuck und Einband Gewicht legten, so müssen wir dankbar als ersten, als Bahnbrecher Eugen Diederichs nennen, der damals, 1896, seinen Verlag begründete. Diederichs ist bis heute unablässig bemüht gewesen, jedem Buche seines Verlags eine seinem Inhalt entsprechende, ich möchte sagen individuelle Ausstattung zu geben. Mit liebevoller Sorgfalt wählte er, fast für jedes Buch anders, das Druckpapier, die Type, die Satzanordnung, den Zierat, Vorsatz und Einband, in allen kleinsten Einzelheiten, z. B. im Titelsatz, in der Anordnung der Seitenzahlen und Kopftitel, der Druckvermerke, suchte er etwas Neues, Originelles zu geben. Er hat, lebhaften und beweglichen Geistes, viel experimentiert, aber sein feiner Geschmack, sein buchästhetisches Gefühl bewahrten ihn davor, im Neuen etwa absurd zu werden. Und seine mancherlei Experimente haben anderen Verlegern und auch Künstlern viele Anregungen gegeben. Er hat, was ihm nicht hoch genug angerechnet werden kann, und womit er mutig vorangegangen ist, von Anfang an junge Künstler herangezogen, wie Cissarz, Fidus, Vogeler, Lechter, Behrens, E. R. Weiß, Ehmcke und manche andere, und ihnen nicht nur den bildlichen und ornamentalen Schmuck, sondern die ganze Druckeinrichtung übertragen. Ebenso wie er neue Künstler an die Bucharbeit heranzog, hat er nicht nur den bewährten, durch künstlerische Arbeit bekannten Druckereien wie Drugulin, Holten, Breitkopf & Härtel Druckaufträge gegeben, sondern er fand auch von den noch weniger bekannten Offizinen diejenigen heraus, die mit ihm neue Wege gehen wollten, wie Poeschel & Trepte, die Steglitzer Werkstatt, und wußte wieder andere, z.B. die Spamersche Druckerei, durch seine Aufträge überhaupt erst zu geschmackvoller Arbeit anzuregen.«


Loubier, Jean [Hans]: Die neue Buchkunst, in: Volkmann, Ludwig (Hrsg.): Die graphischen Künste der Gegenwart. Das moderne Buch. Stuttgart: Felix Krais Verlag, 1910. S. 276

Um jeden Text aus der ihm gemäßen Schrift zu setzen, wählte Diederichs auch aktuelle, von jungen Malern und Graphikern wie Otto Eckmann, Fritz Helmuth Ehmcke oder Walter Tiemann geschaffene Schriften. Für die hier gezeigten Bände kam anscheinend eine Schrift des 1873 geborenen Richard Grimm-Sachsenberg zum Einsatz, die vermutlich 1908 von der Schriftgießerei Julius Klinkhardt veröffentlichte Schrift ›Neue Römische Antiqua‹.

Gerade in der überaus produktiven Phase des Verlags vor dem Ersten Weltkrieg war Schneidler einer der kreativsten deutschen Buchgestalter. Nach seinem Studium von 1904 bis 1905 bei Peter Behrens und Ehmcke an der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf arbeitete er bis 1924 für Diederichs und gab vor allem einigen Reihen des Verlags, die Diederichs besonders am Herz lagen, ihr typisches Gepräge. So etwa den ersten Bänden der 1912 eröffneten und beinahe 100 Jahre lang erschienenen Reihe ›Märchen der Weltliteratur‹ und eben ›Die Religion und Philosophie Chinas‹, in der chinesische Klassiker, unter anderem von Laotse, Konfuzius, Zhuangzi und das I Ging, die der Stuttgarter Sinologe und Theologe Richard Wilhelm erstmals ins Deutsche übersetzt hatte, in sechs Bänden veröffentlicht wurden. Insgesamt gestaltete Schneidler für Diederichs 29 Titel, wobei er entweder die gesamte Ausstattung eines Buches übernahm oder, wie bei den vorliegenden Bänden, auch nur den Einbandes oder die Doppeltitel zeichnete. Letztere tragen zudem auch das 1910 von Schneidler gestaltete Löwen-Signet des Verlags (es bezieht sich auf den ›Marzocco‹ des Donatello in Florenz). Seine intensive Auseinandersetzung mit chinesischer Literatur, Philosophie und Kalligraphie wird ihn zusätzlich für die Aufträge qualifiziert haben.

Kungfutse: Gespräche (Lun Yü), Die Religion und Philosophie Chinas. Bd. 1. Jena: Diederichs, 1910

Literatur

Insel-Miszelle: geklebt oder gedruckt

Die 1912 vom Insel-Verlag unter der Leitung von Anton Kippenberg ins Leben gerufene ›Insel-Bücherei‹ gehört nicht nur zu den erfolgreichsten Buchreihen weltweit, sondern ist, so der Leipziger Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis, »die schönste und ehrwürdigste Buchreihe der Welt« (Video-Beitrag vom 19.3.2014). Kippenbergs Anliegen war es, ansprechend gestaltete Bücher auch für ein breiteres Publikum erschwinglich zu machen. Kennzeichen der billigen Bändchen war ihre relativ hochwertige Ausstattung: Sie waren fest gebunden – bis 1927 wurden die Bände allerdings noch mit Drahtheftung gebunden, erst danach mit Fadenheftung –, mit Buntpapier bezogen und auf gutem Papier einwandfrei gedruckt. Für den Satz wurden unterschiedliche, dem Inhalt angemessene Schriften verwendet.

Ein weiteres Kennzeichen zumindest der bis in die 1970 erschienenen Bände sind das aufgeklebte Titelschild und das aufgeklebte Rückenschild in der Regel mit Angabe des Autors und des Kurztitels. Erst seit den 1980er Jahren werden Titel- und Rückenschild zumindest im Frankfurter Insel-Verlag vor allem aus Kostengründen auf den Einband mitgedruckt und das Titelschild zusätzlich eingeprägt, während im Leipziger Verlag diese noch bis zur Wende in aufwendiger Handarbeit aufgeklebt wurden.

So ist es jedenfalls meist zu lesen und so hatte ich es bislang auch in Erinnerung – bis ich vor wenigen Tagen vier bebilderte Bände aus den 1930er Jahren erwarb, deren Titel ebenfalls aufgedruckt sind.

Im Katalog der Sammlung Jenne waren in den entsprechenden Einträgen allerdings keine Angaben dazu zu finden. Aber eine stichprobenartige Recherche im online einsehbaren vorzüglichen Katalog der Sammlung Hermann Bresinsky führte zu dem Ergebnis, dass bei einigen in den 1930er und 40er Jahren sowie in Wiesbaden in den 1950er Jahren erschienenen Bänden tatsächlich bereits Titel- und Rückenschild eingedruckt wurden. Und das betrifft nicht nur Bildbände, sondern auch reine Textbände. Der ›Befund‹ wurde schließlich noch durch die folgende Aussage von Annemarie Meiner aus dem Jahr 1937 bestätigt: »Daß heute die Schildchen vielfach aus dem Muster des Einbandes ausgespart und so täuschend eingedruckt worden sind, als wäre sie wie früher aufgeklebt, wer hat das von den Hunderttausenden von Lesern bemerkt?« (Dies.: Die Insel-Bücherei und der Bücherfreund, in: Die Insel-Bücherei 1912–1937. Leipzig: Insel-Verlag, 1937. S. 37 f.) Offenbar kaum jemand.

Literatur

  • Kästner, Herbert (Hrsg.): Die Insel-Bücherei: Bibliographie 1912–2012. 2., erg.Auf. Berlin: Insel Verlag, 2013
  • Sarkowski, Heinz; Jeske, Wolfgang; Unseld, Siegfried: Der Insel Verlag 1899–1999. Die Geschichte des Verlags. Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1999. S. 116–124. 372–385. 459–462 u. passim
  • Kästner, Herbert (Hrsg.): Die Insel-Bücherei: Bibliographie 1912–1999, Insel-Bücherei. Frankfurt a.M. and Leipzig: Insel Verlag, 1999
  • Kästner, Herbert (Hrsg.): 75 Jahre Insel-Bücherei 1912–1987. Eine Bibliographie. Leipzig: Insel-Verlag, 1987
  • Plantener, Gerd: Die Insel-Bücherei 1912–1984. Eine Bibliographie. Frankfurt a.M.: Selbstverlag, 1985
  • Zeller, Bernhard (Hrsg.): Die Insel. Eine Ausstellung zur Geschichte des Verlages unter Anton und Katharina Kippenberg vom 8. Mai bis 31. Oktober 1965 des Schiller-Nationalmuseums, Katalog Bd. 15. Marbach a.N.: Deutsches Literaturarchiv im Schiller-Nationalmuseum, 1965. S. 138–159 u. passim
  • Sarkowski, Heinz: 50 Jahre Insel-Bücherei 1912–1962. Frankfurt a.M.: Insel-Verlag, 1962
  • Sarkowski, Heinz (Hrsg.): Der Insel-Verlag: Eine Bibliographie. 1899–1969. Frankfurt a.M.: Insel-Verlag, 1970
  • Die Insel-Bücherei 1912–1937. Leipzig: Insel-Verlag, 1937
  • Insel-Bücherei (Wikipedia)
  • Faszination Insel-Bücherei. Eine Buchreihe schreibt deutsche Geschichte. Beitrag auf der Website zum Katalog Jenne
  • Lokatis, Siegfried: Eine gesamtdeutsche Reihe? Der Nummern-Krieg und die Jubiläen der Insel-Bücherei 1962 und 1987 (2012). Beitrag auf der Website der Bundeszentrale für poitische Bildung

Mit dem roten Baedeker ins Paris der 1930er Jahre

Wieder ein schöner Fund im Neuenheimer Bücherschrank und diesmal sogar ein besonders aufschlussreicher: Die 20. Auflage des Baedekers zu ›Paris und Umgebung‹ von 1931, also 13 Jahre nach dem Ende des Ersten und acht Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, in hervorragendem Zustand, mit allen Karten und dem für die vor dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Ausgaben typischen marmorierten Buchschnitt.

Abgesehen von den bekannten Vorzügen der alten Baedeker, ihren schönen Plänen sowie detaillierten Reiseinformationen und Beschreibungen, nicht nur der Sehenswürdigkeiten, sondern auch von ›Land und Leuten‹, besticht gerade in dieser Ausgabe die angenehm nüchterne Akkuratesse: So wird etwa im Abschnitt über Compiègne auch der Wagon erwähnt, in dem 1918 das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, und zwar mit folgenden Worten:

6km östlich von Compiègne, am Carrefour de l’Armistice, 2km nördl. des Bahnhofs Rethondes (S. 407), empfing am 8. Nov. 1918 Marschall Foch die deutschen Bevollmächtigten (Staatssekretär Erzberger), die am 11. Nov. 5 Uhr vorm. franz. Zeit die Bedingungen des Waffenstillstandes unterzeichneten. Der Salonwagen, in dem dieses Ereignis stattfand, steht seit 1927 in einem Betongebäude am Rande der Lichtung (Eintritt 1 fr.). In der Mitte des Platzes und an den Stellen, wo die beiden Züge standen, sind Steinplatten mit Inschriften angebracht.


Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. 406

»Dieses Ereignis« und das zu Beginn der NS-Diktatur – sachlicher geht’s nicht. Im Abschnitt zu Versailles erfährt man zudem:

Im Kriege 1870–71 war Versailles vom 5. Oktober 1870 bis zum 6. März 1871 Sitz des deutschen Hauptquartiers. König Wilhelm wohnte in der Präfektur. In dem Hause Boulevard du Roi Nr. 1 unterhandelten am 23.–24. und 26.–28. Januar Bismarck und Jules Favre über die Kapitulation von Paris und die Friedenspräliminarien. Nach dem Abzug der Deutschen (12. März 187 1) erfolgte von hier aus unter Marschall MacMahon die Bekämpfung der Pariser Kommune. Versailles war dann bis 1879 Sitz der französischen Regierung und der Kammern. Am 28. Juni 1919 wurde in Versailles der Friede zwischen den alliierten Mächten und Deutschland unterzeichnet (vgl. S. 350).

Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. 343

Und wenige Seiten später heißt es:

In der Spiegelgalerie fand am 18. Januar 1871 die Verkündigung der Wiederherstellung des deutschen Kaisertums statt und am 28. Juni 1919 die Unterzeichnung des Friedensvertrags mit Deutschland.

Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. 350

Punkt. Unglaublich. Nicht einmal ein Hauch von gekränktem Nationalstolz oder Revanchismus! Und das zu einer Zeit, in welcher der Versailler Friedensvertrag von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung als schmachvoller ›Diktatfrieden‹ empfunden wurde, was eine wesentlicher Antrieb für das Aufkommen des Nationalsozialismus war. Unter dem Aspekt erstaunt auch die nüchterne, beinahe wohlmeinende Erwähnung des jüdischen Viertels im Marais:

Die von der Rue Pavée gekreuzte Rue des Rosiers ist der Mittelpunkt des alten Judenviertels, das die engen Straßen zwischen Rue Vieil-du-Temple, Rue de Rivoli und Rue de Turenne umfaßt und noch immer ein Bild unverfälschten jüdischen Volkslebens bietet.

Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. 201

Ähnlich respektvoll klingen im einleitenden Kapitel die allgemeinen Hinwiese zu den »Umgangsregeln« für einen Besuch der Hauptstadt des damaligen ›Erzfeindes‹, die man im Wesentlichen auch heute noch beachten sollte:

Wer im Ausland reist, sollte sich stets bewußt sein, daß er überall als Vertreter seines Volkes angesehen wird und daß sein Verhalten und seine Umgangsformen das Urteil über seine Landsleute mitbestimmen. Wenn man sich der Eigenart des fremden Landes und seiner Bewohner anzupassen und im Verkehr höfliche Formen zu wahren weiß, auf die der Franzose besonderen Wert legt, wird man überall Entgegenkommen finden. Selbst im ehemaligen Kriegsgebiet braucht man mit Takt und Zurückhaltung keine Unannehmlichkeiten zu fürchten. Deutsch kann man ungescheut in der Öffentlichkeit sprechen, doch vermeide man allzu laute Unterhaltung, die als Mangel an gesellschaftlicher Bildung beurteilt wird. Eine gewisse Kenntnis der französischen Sprache ist notwendig, wenn man auch in größeren Gasthöfen und in manchen Restaurants deutsch-sprechende Angestellte findet. Man drücke sich kurz und präzise aus und gewöhne sich an die französischen Formen der Höflichkeit, die alle Anreden mit Monsieur, Madame und Mademoiselle zu schließen pflegt und bei Aufträgen auch an den Kellner oft ein s’il vous plaît hinzufügt.

Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. XII

Im folgenden geht es dann auch ins Detail:

Beim Passieren eines Leichenzuges nehmen Herren den Hut ab, behalten ihn dagegen im Café und in Kaufläden, sowie im Theater bis zum Beginn der Vorstellung meist auf. Für die vornehmen Restaurants ist abends der Frack (habit) oder Smoking (smoking) kaum zu entbehren; ebenso ist Gesellschaftsanzug während der Saison in manchen Theatern erforderlich. Auf der Straße erteilen die Schutzleute (agents de police; im Pariser Argot ›sergots‹ oder ›flics‹) bereitwillig Auskunft; einige von ihnen sind fremder Sprachen mächtig und tragen Armbinden mit entsprechender Aufschrift. Daß man nachts abgelegene Viertel vermeidet, versteht sich von selbst. Taschendiebe treiben, wie in allen Großstädten, ihr Wesen im Gedränge der Bahnhöfe, Straßenbahnen, Kirchentüren u. dgl. – Über Trinkgelder in den Hotels und Restaurants vgl. S. 3 und 17; auch Chauffeure, die Platzanweiserinnen in den Theatern und Kinos sowie Barbiergehilfen erhalten stets ein Trinkgeld, die Autobus- und Straßenbahnschaffner jedoch in der Regel nicht.

Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. XII

Schließlich werden in guter alter Baedeker-Manier zudem landestypische, eigentlich auch heute noch lebendige Eigenarten hervorgehoben, deren Beachtung einen sorgenfreien Aufenthalt in la capitale gewährleisten sollen, so etwa in Hinsicht auf den französischen Verkehr:

Das Kraftfahrwesen ist in Frankreich weiter entwickelt als in Deutschland. Es wird schneller und ›individueller‹ gefahren als bei uns. Fußgänger und Radfahrer nehmen weniger Rücksicht auf Autos und rechnen damit, daß man ihnen ausweicht. Fahrtrichtungsanzeiger sind unbekannt, man gibt Zeichen mit der Hand.

Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. XV

Ein weiteres bemerkenswertes Merkmal der alten Baedeker ist bekanntlich deren Aufmerksamkeit gegenüber kulturellen Aspekten. So widmet der Paris-Band ganze 22 Seiten einer zusammenfassenden Darstellung der »Französischen Kunst«, in der aufgrund der Nachbearbeitung durch den jüdischen Archäologen und Kunstkritiker Hans Nachod vergleichsweise ausführlich auch auf zeitgenössische Strömungen, etwa in der Architektur, eingegangen wird:

In der privaten Bautätigkeit, besonders im Siedlungswesen, sind unter der Führung von Baumeistern wie Sauvage, Robert Mallet-Stevens, Le Corbusier, André Lurçat u.a. bemerkenswerte Fortschritte gemacht werden. Die Neubauten, die in verschiedenen Stadtquartieren, in Passy, am Park von Montsouris und vor allem auch an Stelle des niedergelegten Befestigungsgürtels entstehen, suchen vielfach mit glücklichem Erfolg die neuen Ansprüche an Hygiene und Raumverteilung zu verwirklichen und sind entschiedene Bekenntnisse zur Einfachheit in der äußeren Erscheinung.

Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. LIII

Gerade die Ausführungen am Ende des Kapitels sind in Anbetracht der Tatsache, dass bereits 1930 in Deutschland erste offizielle Maßnahmen gegen Künstler der ›Klassischen Moderne‹ ergriffen wurden, bemerkenswert. So schreibt Nachod:

Gegenüber der fortschrittlichen Bewegung in der Architektur sind die neueren Strömungen in Malerei und Plastik weniger einheitlich und haben noch nicht zu einem ausgesprochenen neuen Stil geführt, der sich weithin Anerkennung verschafft hätte. Das internationale Künstlertum in Paris, das in den letzten Jahren immer mehr aus der Montmartre-Gegend nach dem Montparnasse hinüberzieht, gehört ebenso wie das einheimische einer großen Zahl von widerstreitenden Richtungen an. Neben dem Kubismus, der zur abstrakten Malerei geführt hat, und in dem vor allem der Spanier Pablo Picasso eine führende Rolle einnimmt, ist neuerdings die dem Impressionismus sich nähernde bewußt primitive Landschaftsmalerei des Maurice Utrillo beliebt geworden; eine besondere Richtung, des Surrealismus, sucht gar außerhalb der bildenden Kunst liegende Einwirkungen auf das Gemütsleben des Beschauers zu erreichen. Im Sinne Cézannes gehen ihre eigenen Wege beachtenswerte Maler wie Henri Matisse, Vlaminck, Derain. Im Luxemburg-Museum sind bisher nur wenige der neuesten Künstler vertreten. Dafür hat der Fremde Gelegenheit, die Mannigfaltigkeit dieses künstlerischen Schaffens in den Salons und in den zahlreichen Galerien und Kunsthandlungen kennen zu lernen.

Paris und Umgebung. Handbuch für Reisende. 20. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1931. S. LIII f.

Wie gesagt, wenn man den historischen Rahmen des Bandes bedenkt, so erscheint der ruhige, sachliche und respektvolle Stil überaus erstaunlich. Und nur zwei Jahre nach seinem Erscheinen wurde Hitler zum Kanzler ernannt, wenig später wurden die Gleichschaltungsgesetze erlassen, was einschneidende Folgen auch für das gesamte Verlagswesen hatte, und als sichtbarstes Zeichen der Katastrophe fanden die Bücherverbrennungen statt.