›Klein-Heidelberg‹ in Leipzig

Auf den Weltausstellungen im späten 19. Jahrhundert wurde auch dem deutschen Druckgewerbe seine qualitativen und künstlerischen Defizite vor allem gegenüber den französischen und englischen Mitbewerbern immer wieder deutlich vor Augen geführt. Zu mehr als einer Bronzemedaille reichte es meist nicht. Erst nach der Jahrhundertwende hatte man den Abstand zur Weltspitze aufgeholt, und 1914 sollte dies dann endlich auch stolz der Weltöffentlichkeit präsentiert werden: Anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Leipziger ›Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe‹ organisierte der ›Deutsche Buchgewerbeverein‹ ebendort die ›Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik‹ (Bugra).

Der eher funktional gestaltete offizielle Katalog lässt nur bedingt den enormen Aufwand erkennen, der damals auf dem rund 40 ha großen Ausstellungsgelände am Fuße des Völkerschlachtdenkmals getrieben wurde. 22 Länder beteiligten sich an der Leistungsschau – davon fünf (Italien, Frankreich, Österreich, Russland, England) mit Nationalausstellungen in eigenen Gebäuden –, mehr als 2.300 inländische und mehrere Hundert ausländische Aussteller waren angemeldet. Die Kosten stiegen von ursprünglich geplanten 1,9 Mio. Mark auf insgesamt fast 7 Mio. Mark.

Das dynamische, von Walter Tiemann gestaltete Plakatmotiv der Bugra, der fackelschwingende Genius der Buchkunst auf dem Buchdruckergreif, steht sinnbildhaft für das neue Selbstbewusstsein.

Offizielles Plakat der Bugra 1914 (Entwurf: Walter Tiemann)

Tatsächlich war die Bugra aber nicht nur eine reine buchgewerbliche Fachmesse, sondern sie verband damit auch Elemente einer ›Weltkulturschau‹ und einer Kunstausstellung. So gab es neben einem großen Vergnügungspark mit Wasserrutsche, japanischem Garten und Panoramabahn samt Nachbildung der Sächsisch-Böhmischen Schweiz und Restaurant ›Oberbayern‹ auch mehrere ›Sonderausstellungen‹, die sich verschiedenen Themen widmeten, die in mehr oder weniger engem Bezug zu Schrift, Buch und Druckwesen standen. Dazu gehörte etwa die Beziehung zwischen ›Schule und Buchgewerbe‹, die Rolle der ›Die Frau im Buchgewerbe und in der Graphik‹ oder eine ›Internationale Ausstellung für das kaufmännische Bildungswesen‹.

Auch die »enge Beziehungen zwischen den Hochschulen als Pflanzstätten und Zentren des geistigen Lebens und dem Buchgewerbe und der Graphik, als seine Träger und Verbreiter« sollte in einer Sonderausstellung (›Der Student‹) thematisiert werden, wozu extra ein ›Akademisches Viertel‹ nachgebaut wurde. Als Vorbild diente, gleichsam als Inbegriff einer traditionellen deutschen Universitäts- und Studentenstadt: Heidelberg. Für etwa 327.000 Mark entstand »eine freie Nachbildung des Heidelberger Schlosses (Otto Heinrichsbau, Glockenturm, Gläserner Saalbau, Friedrichsbau)«, ein »neuzeitliches Studentenhaus«, »ein trotziger Torturm (mit Karzer)« sowie »ein Gasthaus (Exkneipe) ›Zum schwarzen Walfisch‹, das Schloß Weinrestaurant ›Alt-Heidelberg‹ mit Theater (Otto Heinrichsbau) sowie der Faßbau ›Zum Perkeo‹ mit dem darüberliegenden ›Saalbau‹«. (Zitate aus: Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik Leipzig 1914. Amtlicher Katalog. Leipzig, 1914. S. 517)

Das Konzept dieser Inszenierung wird in einer offiziellen Broschüre folgendermaßen beschrieben:

Die engen Beziehungen, in denen von seinen ersten Anfängen an das Buchgewerbe zu dem wissenschaftlichen Leben der Hochschu1en gestanden hat, rechtfertigen es durchaus, daß mit der ersten großen Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik auch eine Sonderausstellung verbunden wurde, die zum ersten Male ein umfassendes Kulturbild des studentischen Lebens bietet. Trotzdem die Sonderausstellung über die Grenzen der Entwicklung des deutschen Studentenlebens hinausgegriffen und sowohl die ältere Geschichte des außerdeutschen, abendländischen, akademischen Lebens bis auf die Jetztzeit verfolgt, als auch das moderne Studentenleben, wie es sich z.B. in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Japan usw. entfaltet hat, in Betracht gezogen hat, so steht doch naturgemäß das deutsche Studententum, sein Entstehen, Werden und Sein, im Mittelpunkte dieser hochinteressanten Sonderausstellung.

Die Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik. Leipzig: Brockhaus, 1914. S. 24 f.

Zur intendierten Wirkung des ganzen Ensembles heißt es weiter:

Für die Anlage des ›Akademischen Viertels‹ ist in freier Anlehnung an ›Alt-Heidelberg‹ eine Stätte geschaffen worden, wie sie kaum idealer gedacht werden kann. Der Heidelberger Friedrichsbau, der gläserne Saalbau, der Glockenturm und andere Gebäude versetzen den Besucher so recht mitten hinein in studentisches Fühlen und Denken, so daß er die ihm gebotene Ausstellung mit großer Freude und erhöhtem Verständnis des näheren betrachten wird.

Ein modernes Couleurhaus, ein Dorfwirtshaus, der Faßbau, der Kneipsaal u.a.m. laden zu längerem Verweilen ein, Es ist ein 1ebensfrohes Bild, daß die Ausstellungsleitung in dem ›Akademischen Viertel‹ geschaffen hat.

Die Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik. Leipzig: Brockhaus, 1914. S. 25
Die Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik. Leipzig: Brockhaus, 1914 (links Titelblatt)
Die Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik. Leipzig: Brockhaus, 1914 (links Titelblatt)

Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer erlitt die erst im Mai eröffnete Ausstellung jedoch einen herben Rückschlag. Bedeutende ›Buchländer‹ wie Frankreich und England zogen ihre Vertretungen ab, ein starker Besucherrückgang und ein erhebliches finanzielles Defizit waren u.a. die Folge. Bis Juli haben zwar immerhin rund 2,3 Millionen Menschen aus dem In- und Ausland die Bugra besucht. Am Ende standen »Einnahmen von 6,4 Mio. Mark […] schließlich Ausgaben von 6,88 Mio. Mark gegenüber« (M. Middell in: Die Welt in Leipzig. Bugra 1914. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft, 2014. S. 74).

Die vorläufige Bilanz vom 31. Oktober 1914 hatte ergeben, daß alle Garantiezeichner mit 100 % in Anspruch genommen werden mußten und daß sich darüber hinaus noch ein Fehlbetrag von 500.000 M ergeben würde. Die Kriegsverluste der Ausstellung hat die Ausstellungsleitung auf insgesamt 1.200.000 M beziffert.

Zitat aus: Stefan Paul-Jacobs: Die Bugra und der Krieg, in: Die Welt in Leipzig: Bugra 1914. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft, 2014. S. 215

Literatur

Fraktur nach 1941

Doch etwas irritiert blickte ich gestern in dieses hübsche Buch von 1942 des saarländischen katholisch-konservativen Heimatdichters Johannes Kirschweng, das ich gestern dem hiesigen öffentlichen Bücherschrank entnommen habe.

Es handelt sich um die fünfte Auflage des erstmals 1940 im Freiburger Herder-Verlag erschienen Buches und ist in einer schönen Fraktur, vermutlich der Unger-Fraktur, gesetzt, obwohl die Nazis entsprechend einem von Martin Bormann am 3. Januar 1941 veröffentlichten Erlass doch die Verwendung von Frakturschriften oder, wie sie darin irreführend genannt wurden, »Schwabacher Judenlettern« in Deutschland verboten hatten. Das hat offenbar nicht wie gewünscht funktioniert, wobei das im vorliegenden Fall auch daran gelegen haben könnte, dass einfach nur der Stehsatz von 1940 verwendet wurde und auch damals ökonomische Gründe Vorrang vor der Ideologie hatten.

Dass bereits zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung eine fünfte Auflage gedruckt wurde, spricht für die Popularität des Inhalts, was insofern nicht verwundert, da »sein Buch«, wie Kirschweng im Vorwort schreibt, »Menschen in die Hand geraten [möge], die traurig sind und nach Trost verlagen.« Derer gab es spätestens nach 1939 bekanntlich mehr als genug.

Lexika während der NS-Zeit

Apropos 20 Jahre Wikipedia (dazu s. etwa die Dokumentation ›Das Wikipedia-Versprechen‹ sowie die Zusammenstellung relevanter Beiträge im Perlentaucher und in der Wikipedia-Presseschau): Das Phänomen, dass von Außen, von staatlicher, politischer oder wirtschaftlicher Seite versucht wurde, auf die inhaltliche Ausrichtung von Lexika Einfluss zu nehmen, ist so alt wie die Publikationsart selbst. Lexika oder Enzyklopädien trugen auch in der Vergangenheit in hohem Maß zur Meinungsbildung bei, weshalb auch früher, vor allem natürlich in Diktaturen, bei den entsprechende Verlagen versucht wurde, das dort vermittelte Geschichts- und Gesellschaftsbild zu beeinflussen. Deutlich wird das zum Beispiel bei den beiden letzten vor dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Lexika-Ausgaben des Brockhaus-Verlags und des Bibliographischen Instituts.

Die Machtübernahme der Nazis 1933 hatte bekanntlich schnell weitreichende Folgen für alle Kultur- und Wirtschaftsbetriebe und damit auch für das Verlagswesen. Innerhalb kürzester Zeit gelang es der NSDAP ein über Jahrhunderte gewachsenes, hoch komplexes und weitgefächertes System unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Partei bestimmte weitgehend, was veröffentlicht werden durfte.

So geschah es eben auch bei den beiden bedeutendsten deutschsprachigen Lexika. Während die Artikel der von 1928 bis 1935 erschienenen 15. Auflage des Großen Brockhaus noch weitgehend sachlich und neutral bleiben – das betrifft auffälligerweise auch jene Lemmata, die in besonderem Maße inhaltlich für die NS-Propaganda relevant waren, etwa über Hitler und andere Nationalsozialisten oder über die NSDAP, Juden oder Konzentrationslager– ist in dem bereits 1935 erschienenen Ergänzungsband jeder dafür gleichsam geeignete Artikel geradezu durchsetzt von Nazi-Ideologie. Hier ist der Einfluss der 1934 geschaffenen ›Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums‹ (PPK) überdeutlich festzustellen. Zum Vergleich seien die Lemmata zu Hitler und Konzentrationslager aus beiden Publikationen gegenübergestellt.

Da die Neuausgaben der Lexika von Brockhaus und Meyer entsprechend einer älteren Absprache abwechselnd im Turnus erschienen, hatte das Bibliographische Institut das Pech, die Neubearbeitung seines Lexikons erst in den 30er Jahren betreiben zu können, so dass die von 1936 bis 1942 erschienene 8. Auflage des ›Meyers‹ maßgeblich durch die Zusammenarbeit mit der PPK geprägt und »inhaltlich aufgrund der Indoktrinierung durch die damaligen nationalsozialistischen Machthaber mit Vorsicht zu genießen ist; bei fast jedem Artikel ist dies eminent & aufgrund dessen wird diese Ausgabe auch als der ›Nazi-Meyer‹ oder der ›Braune Meyer‹ bezeichnet.« (Zitat aus: https://www.lexikon-und-enzyklopaedie.de/Meyers-Lexikon-8-Auflage/).

Ausführlich zum Thema:

  • Thomas Keiderling: Der Lexikonverlag, in Fischer, E. (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 3: Drittes Reich, Teil 1. Berlin : De Gruyter, 2015. S. 425 ff.
  • ders.: Enzyklopädisten und Lexika im Dienst der Diktatur? Die Verlage F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut („Meyer“) in der NS-Zeit, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Jg. 60. 2012 Heft 1, S. 69–92 (https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2012_1.pdf)
  • ders.: Lexikonarbeit im Nationalsozialismus. Eine vergleichende Untersuchung zu F. A. Brockhaus und dem Bibliographischen Institut, in: Saur, Klaus Gerhard (Hrsg.): Verlage im „Dritten Reich“, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderband 109. Frankfurt a.M. : Klostermann, 2013. S. 79–108.
  • ders. (Hrsg.): F. A. Brockhaus: 1905–2005. Leipzig, Mannheim: F.A. Brockhaus, 2005. S. 145–187 bes. 161–164

Zu ›Meyers Lexikon 8. Auflage (1936–1942)‹: https://www.lexikon-und-enzyklopaedie.de/Meyers-Lexikon-8-Auflage/

Zu ›Der Grosse Brockhaus 15. Auflage (1928–1935/1939)‹: https://www.lexikon-und-enzyklopaedie.de/Der-Grosse-Brockhaus-15-Auflage/ und https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Gro%C3%9Fe_Brockhaus,_15._Auflage