Lexika während der NS-Zeit

Apropos 20 Jahre Wikipedia (dazu s. etwa die Dokumentation ›Das Wikipedia-Versprechen‹ sowie die Zusammenstellung relevanter Beiträge im Perlentaucher und in der Wikipedia-Presseschau): Das Phänomen, dass von Außen, von staatlicher, politischer oder wirtschaftlicher Seite versucht wurde, auf die inhaltliche Ausrichtung von Lexika Einfluss zu nehmen, ist so alt wie die Publikationsart selbst. Lexika oder Enzyklopädien trugen auch in der Vergangenheit in hohem Maß zur Meinungsbildung bei, weshalb auch früher, vor allem natürlich in Diktaturen, bei den entsprechende Verlagen versucht wurde, das dort vermittelte Geschichts- und Gesellschaftsbild zu beeinflussen. Deutlich wird das zum Beispiel bei den beiden letzten vor dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Lexika-Ausgaben des Brockhaus-Verlags und des Bibliographischen Instituts.

Die Machtübernahme der Nazis 1933 hatte bekanntlich schnell weitreichende Folgen für alle Kultur- und Wirtschaftsbetriebe und damit auch für das Verlagswesen. Innerhalb kürzester Zeit gelang es der NSDAP ein über Jahrhunderte gewachsenes, hoch komplexes und weitgefächertes System unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Partei bestimmte weitgehend, was veröffentlicht werden durfte.

So geschah es eben auch bei den beiden bedeutendsten deutschsprachigen Lexika. Während die Artikel der von 1928 bis 1935 erschienenen 15. Auflage des Großen Brockhaus noch weitgehend sachlich und neutral bleiben – das betrifft auffälligerweise auch jene Lemmata, die in besonderem Maße inhaltlich für die NS-Propaganda relevant waren, etwa über Hitler und andere Nationalsozialisten oder über die NSDAP, Juden oder Konzentrationslager– ist in dem bereits 1935 erschienenen Ergänzungsband jeder dafür gleichsam geeignete Artikel geradezu durchsetzt von Nazi-Ideologie. Hier ist der Einfluss der 1934 geschaffenen ›Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums‹ (PPK) überdeutlich festzustellen. Zum Vergleich seien die Lemmata zu Hitler und Konzentrationslager aus beiden Publikationen gegenübergestellt.

Da die Neuausgaben der Lexika von Brockhaus und Meyer entsprechend einer älteren Absprache abwechselnd im Turnus erschienen, hatte das Bibliographische Institut das Pech, die Neubearbeitung seines Lexikons erst in den 30er Jahren betreiben zu können, so dass die von 1936 bis 1942 erschienene 8. Auflage des ›Meyers‹ maßgeblich durch die Zusammenarbeit mit der PPK geprägt und »inhaltlich aufgrund der Indoktrinierung durch die damaligen nationalsozialistischen Machthaber mit Vorsicht zu genießen ist; bei fast jedem Artikel ist dies eminent & aufgrund dessen wird diese Ausgabe auch als der ›Nazi-Meyer‹ oder der ›Braune Meyer‹ bezeichnet.« (Zitat aus: https://www.lexikon-und-enzyklopaedie.de/Meyers-Lexikon-8-Auflage/).

Ausführlich zum Thema:

  • Thomas Keiderling: Der Lexikonverlag, in Fischer, E. (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 3: Drittes Reich, Teil 1. Berlin : De Gruyter, 2015. S. 425 ff.
  • ders.: Enzyklopädisten und Lexika im Dienst der Diktatur? Die Verlage F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut („Meyer“) in der NS-Zeit, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Jg. 60. 2012 Heft 1, S. 69–92 (https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2012_1.pdf)
  • ders.: Lexikonarbeit im Nationalsozialismus. Eine vergleichende Untersuchung zu F. A. Brockhaus und dem Bibliographischen Institut, in: Saur, Klaus Gerhard (Hrsg.): Verlage im „Dritten Reich“, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderband 109. Frankfurt a.M. : Klostermann, 2013. S. 79–108.
  • ders. (Hrsg.): F. A. Brockhaus: 1905–2005. Leipzig, Mannheim: F.A. Brockhaus, 2005. S. 145–187 bes. 161–164

Zu ›Meyers Lexikon 8. Auflage (1936–1942)‹: https://www.lexikon-und-enzyklopaedie.de/Meyers-Lexikon-8-Auflage/

Zu ›Der Grosse Brockhaus 15. Auflage (1928–1935/1939)‹: https://www.lexikon-und-enzyklopaedie.de/Der-Grosse-Brockhaus-15-Auflage/ und https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Gro%C3%9Fe_Brockhaus,_15._Auflage

Schönheit in Krisenzeiten

Ein neuer hübscher Fund im Bücherregal, der zeigt, dass ›Kulturverleger‹ (s. auch https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/steinen1912/0005) wie Samuel Fischer auch in Krisenzeiten – der Band wurde 1917 hergestellt – Wert auf eine ansprechende Gestaltung und gute Verarbeitung ihrer Bücher legten. Alleredings wurde im vorliegenden Fall mit etwas zu viel Druck gedruckt, und es musste auf »Papier mit Holzschliffzusatz« zurückgegriffen werden – oder ist das der Grund für die relativ starke Schattierung? –, wobei ihm die angeblich mindere Papierqualität auch nach über 103 Jahren nicht anzusehen ist.

Hermann Hesse: Peter Camenzind. Berlin: S. Fischer Verlag, 1917. Einband
Hermann Hesse: Peter Camenzind. Berlin: S. Fischer Verlag, 1917. Vorsatz
Hermann Hesse: Peter Camenzind. Berlin: S. Fischer Verlag, 1917. Impressum
Hermann Hesse: Peter Camenzind. Berlin: S. Fischer Verlag, 1917. S. 126 f.

Buchkunstbewegung um 1900

Und wieder ein erfreulicher Zufallsfund, diesmal jedoch im Antiquariat von Friedrich Welz, der seinen Laden leider vor kurzem geschlossen hat: https://www.rnz.de/nachrichten/heidelberg_artikel,-heidelberg-friedrich-welz-schliesst-nach-fast-40-jahren-sein-antiquariat-_arid,583446.html.

In dem 1901 bei Hermann Seemann Nachfolger verlegten Sammelband sind drei sehr lesenswerte Beiträge in deutscher Übersetzung abgedruckt, die William Morris, Emery Walker, Thomas James Cobden-Sanderson und Reginald Blomfield 1893 zu den Themen ›Printing‹, ›Bookbinding‹ und ›Of Book Illustration and Book Decoration‹ in den Arts and Crafts Essays veröffentlicht hatten.

Das zeigt – wie z.B. auch die von Peter Jessen organisierten Ausstellungen in Berlin –, dass die Reformideen des Arts and Crafts Movement und die damit verbundenen Bemühungen von Morris, Walker und Cobden-Sanderson um eine Erneuerung der Buchkunst in Deutschland erst mit einer gewissen Verzögerung rezipiert wurden.

Kunst und Handwerk – Arts and Crafts Essays: II. Die Buchkunst. Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger, 1901. Titel
Kunst und Handwerk – Arts and Crafts Essays: II. Die Buchkunst. Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger, 1901. S. 1

Götter, Gräber und Gelehrte

Heute im öffentlichen Bücherregal gefunden: eine sehr gut erhaltene Ausgabe aus dem Jahr 1957 von C. W. Cerams (alias Kurt Wilhelm Marek) erstmals 1949 erschienenen Klassiker ›Götter, Gräber und Gelehrte‹. Für mich ist es immer noch eines der am besten lesbaren nicht-wissenschaftlichen Bücher zum Thema ›Archäologie‹, vor allem wenn man bedenkt, unter welchen Umständen Marek das Buch wenige Jahre nach Kriegsende geschrieben hat.

Allein das Vorwort ist lesenswert. So heißt es etwas kokett oder doch sehr ehrlich bereits auf den ersten beiden Seiten:

»Ich rate dem Leser, das Buch nicht auf der ersten Seite zu beginnen. Ich tue das deshalb, weil ich weiß, wie wenig die überzeugteste Versicherung des Autors verfängt, daß er einen außerordentlich interessanten Stoff vorzutragen habe, wie wenig besonders dann, wenn der Titel einen Roman der Archäologie verspricht, der Altertumskunde, von der jedermann überzeugt ist, daß sie eine der trockensten und langweiligsten Wissenschaften sei.

[…]

Unser Buch ist ohne wissenschaftliche Ambitionen geschrieben. Vielmehr wurde nur versucht, eine bestimmte Wissenschaft derart zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, daß die Arbeit der Forscher und Gelehrten vor allem in ihrer inneren Spannung, ihrer dramatischen Verknüpfung, ihrem menschlichen Gebundensein sichtbar wurde. Dabei durfte die Abschweifung nicht gescheut werden, ebensowenig wie die persönliche Reflexion und die Herstellung aktueller Bezogenheit. Dadurch ist ein Buch entstanden, das der Wissenschaftler ›unwissenschaftlich‹ nennen muß.

Ich habe dafür nur eine Entschuldigung, daß dies genau in meiner Absicht lag. Denn ich fand, daß diese reiche Wissenschaft, in deren Taten sich Abenteuer und Stubenfleiß, romantischer Aufbruch und geistige Selbstbescheidung paarten, in der die Tiefe aller Zeiten und die Weite globalen Raumes ausgeschritten wurde, in Fachpublikationen begraben worden war. Wie hoch auch immer der wissenschaftliche Wert dieser Publikationen war – sie waren keineswegs dazu geschrieben, ›gelesen‹ zu werden. […]

Trotz der jeder reinen Deskription abholden Methode, die mir hier die Feder führte, bin ich in höchstem Grade der reinen archäologischen Wissenschaft verpflichtet. Wie könnte es anders sein – das Buch ist ein Loblied auf ihre Ergebnisse, ihren Scharfsinn, ihre Unermüdlichkeit; auf die Forscher selbst vor allem, die meist nur aus echter Bescheidenheit verschwiegen, was – weil es des Nacheiferns wert ist – der Verkündung bedarf. […]. Der ›Roman der Archäologie‹ ist ein Roman im barocken Sinn, insofern er im ältesten Sinn romantische (der Realität durchaus nicht widersprechende) Ereignisse und Lebensläufe erzählt.

Aber er ist ein ›Tatsachenroman‹, und das will im vorliegenden Fall im allerstrengsten Sinne heißen: Alles, was hier erzählt wird, ist nicht etwa nur an Tatsachen geknüpft (und von der Phantasie des Autors ausgeschmückt), sondern ist im einwandfreiesten Sinn allein aus Tatsachen zusammengefügt (zu denen die Phantasie des Autors auch nicht das kleinste Ornament hinzufügte, sofern dies Ornament nicht ebenfalls von der Zeitgeschichte geliefert wurde).Dennoch bin ich überzeugt, daß der Fachwissenschaftler, der dies Buch in die Hand bekommt, Fehler in ihm entdecken wird. […]«

Das Buch und seine bis 1957 über 500.000 verkauften Exemplare haben nicht unwesentlich zur Wiederbelebung des Verlags nach dem Krieg beigetragen. Zur wirklich erstaunlichen Entstehungs- und Erfolgsgeschichte des Buches sowie zu Kurt W. Marek gibt es einen aufschlussreichen Beitrag in der 2008 erschinenen Chronik des Verlags: Gieselbusch, Hermann; Moldenhauer, Dirk; Naumann, Uwe; Töteberg, Michael: 100 Jahre Rowohlt. Eine illustrierte Chronik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008. S. 159–165. Der Untertitel des Kapitels ist eindeutig: ›Ein Lektor schreibt einen Bestseller und saniert den Verlag‹Geschichte des Buches; s. auch https://www.fr.de/kultur/literatur/wieder-11561241.html

Das waren noch Zeiten

Das waren noch Zeiten, als auch bei wissenschaftlichen Publikationen auf eine ansprechende Gestaltung, Typographie Wert gelegt wurde: Hier eine Graphik – der stratigraphische Aufriss nach der 1904 vorgenommenen Untersuchung im Westhof des Palastes von Knossos auf Kreta – aus dem auch inhaltlich noch lesenswerten Klassiker von Arthur Evans ›The Palace of Minos‹ (1921–1936), hier S. 33 von Band 1 von 1921.

Alle sechs Bände von Evans’ ›Palace of Minos‹ sind übrigens in der ›Digitalen Bibliothek‹ der UB Heidelberg einzusehen: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/evans1921ga

https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/evans1921bd1/0058

Neues Handschriftenportal

Hochinteressant: Seit zwei Jahren arbeiten die Staatsbibliothek Berlin, die UB Leipzig, die Bayrische Staatsbibliothek München und die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel an der Realisierung eines Handschriftenportals, das »als zentrale Plattform für Erschließungs- und Bilddaten zu Buchhandschriften aus deutschen Sammlungen« fungieren soll. Das Projekt wird von der DFG gefördert und soll »Ende 2021/Anfang 2022 das Handschriftenportal Manuscripta Mediaevalia ablösen«. »Damit wird ein multifunktionales Find- und Arbeitsinstrument für die Recherche von und die Arbeit mit beschreibenden Informationen und Digitalisaten zu mittelalterlichen und neuzeitlichen Buchhandschriften bereitstehen.« Aktuell gibt es die Möglichkeit, die Testumgebung auszuprobieren und den betreffenden Institutionen Erfahrungen mitzuteilen.